Die Berufung
selbst.
Während des Prozesses hatte Mary Grace häufig bei Pastor Ott vorbeigeschaut und ihn davor gewarnt, zu optimistisch zu sein. Er war es nicht gewesen. Als sie ihn vor zwei Stunden angerufen und über den erstaunlichen Ausgang des Verfahrens informiert hatte, war er vor Freude mit seiner Frau im Pfarrhaus herumgetanzt. Krane war verurteilt, gedemütigt, bloßgestellt worden. Die Gerechtigkeit hatte gesiegt. Endlich.
Als er seine Schäfchen begrüßte, sah er Jeannette mit ihrer Stiefschwester und ihrer Clique eintreten. Sofort war sie von Leuten umringt, die ihr nahestanden, ihren Triumph mit ihr teilen und ihr etwas ins Ohr flüstern wollten. Jeannette nahm im hinteren Teil des Raumes Platz, in der Nähe des alten Klaviers, und es bildete sich eine Schlange vor ihr. Sie brachte es fertig, ein paarmal zu lächeln und sich zu bedanken, aber sie wirkte schwach und gebrechlich.
Da der Auf lauf in den Kasserollen von Minute zu Minute kälter wurde, rief Pastor Ott seine so zahlreich erschienenen Schäfchen zur Ordnung, sprach ein hochtrabendes Dankgebet und sagte nach dem furiosen Finale: »Lasset uns essen.«
Wie immer bekamen die Kinder und die Alten zuerst, als das Essen verteilt wurde. Ott ging in den hinteren Teil des Saales und saß kurz darauf neben Jeannette. Als die anderen sich nach und nach weniger für sie als für das Essen interessierten, flüsterte sie dem Pastor zu: »Ich würde gern auf den Friedhof gehen.«
Er begleitete sie durch eine Seitentür auf einen schmalen Kiesweg, der hinter der Kirche steil abfiel und nach fünfzig Metern zu dem kleinen Friedhof führte. Langsam und schweigend gingen sie durch die Finsternis. Ott öffnete das Tor, und sie betraten den gut gepflegten Friedhof. Die Grabsteine waren klein. In der Stadt lebten arbeitende Menschen, die sich keine großen Gedenksteine oder Mausoleen leisten konnten, mit denen bedeutende Menschen geehrt werden.
Vier Reihen weiter kniete sich Jeannette rechts zwischen zwei Gräbern nieder. In einem war Chad beerdigt worden, ein kränkliches Kind, das mit sechs Jahren an Krebs gestorben war. In dem anderen Grab waren die sterblichen Überreste ihres Mannes Pete beigesetzt, mit dem sie acht Jahre verheiratet gewesen war. Vater und Sohn, Seite an Seite ruhend, für immer. Sie besuchte ihre Gräber mindestens einmal pro Woche und wünschte sich jedes Mal, ihnen nachzufolgen. Während sie beide Grabsteine gleichzeitig streichelte, begann sie leise zu reden: »Hallo, Jungs, ich bin's, Mom. Ihr würdet nicht glauben, was heute passiert ist.«
Pastor Ott entfernte sich, um sie allein zu lassen mit ihren Tränen, Gedanken und leisen Worten, die er nicht hören wollte. Er wartete am Tor, und während die Minuten verstrichen, beobachtete er, wie sich die Schatten zwischen den Grabsteinen bewegten, wenn das Mondlicht durch die dahintreibenden Wolken drang. Er hatte Chad und Pete beerdigt - und vierzehn andere Mitglieder seiner Gemeinde, die von Krane Chemical vergiftet worden waren. Sechzehn insgesamt, und die Menschen starben weiter. Sechzehn schweigende Opfer, die sich jetzt vielleicht doch noch Gehör verschafft hatten. Eine Stimme von dem kleinen, mit einem Lattenzaun umgebenen Friedhof neben der Kirche von Pine Grove war endlich erhört worden. Eine laute, wütende Stimme, die Gerechtigkeit verlangte.
Er sah Jeannettes Schatten, hörte sie reden.
In den Augenblicken vor Petes Ende hatte er mit ihm gebetet, in Chads Todesstunde dessen Stirn geküsst. Er hatte Geld gesammelt für die Särge und Bestattungen. Dann hatten er und zwei seiner Diakone die Gräber ausgehoben. Zwischen den beiden Beerdigungen hatten acht Monate gelegen.
Jeannette richtete sich auf, verabschiedete sich von ihren Toten und ging zu Ott.
»Wir sollten wieder reingehen«, sagte er.
»Ja, haben Sie vielen Dank«, erwiderte sie, sich mit dem Handrücken über die Wange wischend.
Mr Trudeaus Tisch hatte fünfzigtausend Dollar gekostet, und wenn man einen Scheck über eine solche Summe ausstellte, konnte man verdammt noch mal ja wohl selbst bestimmen, wer daran Platz nehmen durfte. Zu seiner Linken saß Brianna, neben ihr ihre enge Freundin Sandy, ebenfalls eine bis aufs Skelett abgemagerte Person, die gerade das Kapitel ihrer zweiten Ehe abgeschlossen hatte und nun auf der Jagd nach Ehemann Nummer drei war. Rechts neben ihm saß ein befreundeter ehemaliger Banker mit Frau, was ihm angenehm war, da sie vorzugsweise über Kunst redeten. Direkt gegenüber hatte sein
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