Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Berufung

Titel: Die Berufung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
Vom Netzwerk:
würde. Heute musste gefeiert werden.
    Die Gemeinde war auf ihre Unabhängigkeit bedacht, und es gab keinerlei Verbindungen zu anderen Glaubensgemeinschaften, was den Gründer der Pine Grove Church, Pastor Denny Ott, insgeheim mit Stolz erfüllte. Die Kirche war vor Jahrzehnten von Baptisten gebaut worden, doch deren Gemeinde war von den gleichen Auflösungserscheinungen betroffen wie Bowmore insgesamt. Als Ott eintraf, bestand sie nur noch aus ein paar schwer gezeichneten Seelen. Jahrelange interne Auseinandersetzungen hatten die Zahl der Mitglieder dezimiert. Ott verscheuchte den Rest, öffnete die Türen und ging auf die Menschen zu.
    Er war nicht sofort akzeptiert worden, vornehmlich aus dem Grund, weil er »aus dem Norden« kam und eine saubere, deutliche Aussprache hatte. In einem Bibelkolleg in Nebraska hatte er eine junge Frau aus Bowmore kennengelernt, die ihn in den Süden mitnahm, wo er sich durch eine Reihe von Missgeschicken plötzlich auf dem Posten eines Interimspfarrers der Second Baptist Church wiederfand. Eigentlich war er gar kein Baptist, doch da es in der Gegend nur so wenige junge Geistliche gab, konnte es sich die Kirche nicht leisten, wählerisch zu sein. Ein halbes Jahr später waren alle Baptisten verschwunden, und Kirche und Gemeinde hatten einen neuen Namen.
    Ott trug einen Bart und predigte häufig im Flanellhemd und mit Wanderstiefeln an den Füßen. Krawatten waren nicht verboten, wurden aber argwöhnisch beäugt. Es war eine Kirche des Volkes, wo jeder auch dann Frieden und Trost finden konnte, wenn er nicht im Sonntagsstaat auftauchte. Pastor Ott schaffte den Gebrauch der King-James-Bibel und des alten Gesangbuchs ab. Er hatte kein besonderes Faible für die traurigen Choräle altmodischer Pilger. Die Gottesdienste wurden aufgelockert und durch den Einsatz von Gitarren und Diashows modernisiert. Er glaubte und predigte, Armut und Ungerechtigkeit seien wichtigere gesellschaftliche Themen als Abtreibung und die Rechte von Homosexuellen, aber insgesamt hielt er sich in politischen Dingen zurück.
    Die Gemeinde wuchs und prosperierte, obwohl er sich um Geld nicht scherte. Ein Freund aus dem Priesterseminar leitete eine Mission in Chicago, und über ihn erhielt Ott große Mengen gebrauchter, aber tragbarer Kleidungsstücke für die »Kleiderkammer« der Kirche. Er bettelte die größeren Gemeinden in Hattiesburg und Jackson an und unterhielt mit ihren Spenden eine gut gefüllte Speisekammer an einem Ende des Gemeindesaals. Und er leierte den Pharmafirmen überschüssige Medikamente aus der Tasche, sodass er die »Apotheke« der Kirche mit handelsüblichen Arzneimitteln bestücken konnte.
    Denny Ott fühlte sich für das Wohlergehen von ganz Bowmore zuständig, und wenn er es verhindern konnte, musste niemand unter freiem Himmel schlafen oder hungrig oder krank ins Bett gehen. Nicht, solange er im Dienst war, und er war praktisch immer im Dienst.
    Er hatte sechzehn Gemeindemitglieder beerdigt, die durch Krane Chemical ums Leben gekommen waren, ein Unternehmen, das er so hasste, dass er unablässig dafür um Vergebung betete. Sein Hass galt nicht den namen- und gesichtslosen Menschen, denen das Unternehmen gehörte; das wäre mit seinem Glauben nicht vereinbar gewesen. Nein, er hasste das Unternehmen selbst. War das eine Sünde? Dieses Problem nagte Tag für Tag an ihm, und um auf der sicheren Seite zu sein, betete er einfach weiter.
    Alle sechzehn Toten waren auf einem kleinen Friedhof neben der Kirche bestattet worden. Wenn es draußen warm war, mähte er das Gras zwischen den Grabsteinen, war es kalt, strich er den weißen Lattenzaun, der den Friedhof umgab und das Wild fernhielt. Obwohl er es nicht so geplant hatte, war seine Kirche zur Koordinationsstelle der Proteste gegen Krane Chemical in Cary County geworden. Fast alle Gemeindemitglieder hatten direkt oder indirekt mit dem Tod oder mit Krankheiten Bekanntschaft gemacht, die durch die Aktivitäten des Chemiekonzerns verursacht worden waren.
    Die ältere Schwester seiner Frau hatte gemeinsam mit Mary Grace Shelby die Highschool von Bowmore abgeschlossen. Pastor Ott und die Paytons standen einander sehr nahe. Oft saß der Geistliche bei geschlossener Tür in seinem Arbeitszimmer und ließ sich per Telefon juristisch beraten. Im Gemeindesaal waren Dutzende von eidlichen Aussagen zu Protokoll gegeben worden, in Anwesenheit von Anwälten aus großen Städten. Ott verachtete die Firmenanwälte fast so sehr wie das Unternehmen

Weitere Kostenlose Bücher