Die Berufung
Aus etlichen Gründen hatten sie Angst, sie nach Gutdünken durch die Straßen von Hattiesburg fahren zu lassen - eine illegale, unsicher fahrende Einwanderin ohne Führerschein in einem Honda mit Hunderttausenden Kilometern auf dem Tacho und zwei glücklichen kleinen Kindern auf der Rückbank. Sie hatten Ramona beigebracht, die Kinder auf einem unauffälligen Weg durch Seitenstraßen zur Schule zu bringen. Dasselbe galt, wenn sie einkaufen oder -falls es sich nicht vermeiden ließ - in der Kanzlei vorbeischauen musste. Sollte sie trotzdem irgendwann angehalten werden, hatten sie vor, die Polizisten, den Staatsanwalt und den Richter anzuflehen, ein Auge zuzudrücken. Sie kannten sie gut.
Wes wusste aus verlässlicher Quelle, dass der amtierende Stadtrichter selbst einen illegalen Einwanderer beschäftigte, der in seinem Garten Unkraut jätete und den Rasen mähte.
»Wir hatten einen guten Tag«, antwortete Ramona. »Keine Probleme, alles in Ordnung.«
Tatsächlich, ein guter Tag, dachte Mary Grace, während sie den Käse zu schmelzen begann.
Das Telefon klingelte, und Wes nahm zögernd ab. Ihre Nummer stand nicht im Telefonbuch, weil irgendein Verrückter sie einmal bedroht hatte. Eigentlich benutzten sie fast nur ihre Mobiltelefone. Er lauschte, sagte etwas, legte auf und kam in die Küche, wo er die beiden Frauen beim Kochen störte.
»Wer war's?«, fragte Mary Grace besorgt. Jeder Anruf über die Festnetzverbindung erregte Misstrauen.
»Sherman aus der Kanzlei. Dort hängen ein paar Reporter herum, die die neuen Stars suchen.« Sherman war eine ihrer juristischen Hilfskräfte.
»Warum ist er in der Kanzlei?«, fragte Mary Grace.
»Wahrscheinlich kann er ohne Arbeit nicht leben. Haben wir Oliven für den Salat?«
»Nein. Was hast du ihm gesagt?«
»Dass er einen erschießen soll, damit der Rest verschwindet.«
»Schleudern Sie bitte den Salat«, sagte sie zu Ramona.
Sie zwängten sich zu fünft an einen kleinen Tisch in einer Ecke der Küche und hielten sich bei den Händen, als Wes das Tischgebet sprach und sich für die guten Dinge des Lebens bedankte, für die Familie, die Freunde und die Schule. Und für das Essen, das auf dem Tisch stand. Außerdem war er dankbar für diese kluge und großzügige Jury, die ein so fantastisches Urteil gefällt hatte, doch sie konnte er später noch in ein Gebet einschließen. Zuerst wurde der Salat herumgereicht, dann folgten die Makkaroni und der Käse.
»Gehen wir campen, Dad?«, platzte es nach dem ersten Bissen aus Mack heraus.
»Klar«, antworte Wes, dessen Rücken plötzlich schmerzte. »Campen« in der Wohnung hieß, dass der Boden des Wohnzimmers mit Decken, Kissen und Steppdecken bedeckt und dass dort geschlafen wurde, gewöhnlich am Freitagabend, wobei der Fernseher bis tief in die Nacht lief. Spaß machte das Ganze nur, wenn Mom und Dad mit von der Partie waren. Auch Ramona wurde stets eingeladen, aber sie lehnte dankend ab.
»Trotzdem ist zur gleichen Zeit Schluss«, sagte Mary Grace. »Ihr müsst morgen in die Schule.«
»Zehn Uhr.« Liza versuchte zu handeln.
»Neun«, sagte Mary Grace. Das Zugeständnis einer zusätzlichen halben Stunde ließ die beiden Kinder lächeln.
Mary Grace genoss den Augenblick. Sie war glücklich, dass es mit dem Stress möglicherweise fürs Erste vorbei war. Vielleicht würde sie jetzt etwas Ruhe finden. Sie würde ihre Kinder zur Schule bringen, deren Klassenkameraden kennenlernen und die Mahlzeiten mit ihnen einnehmen. Im Augenblick sehnte sie sich nur danach, eine gute Mutter zu sein, und ihr graute schon jetzt vor dem Tag, an dem sie wieder einen Gerichtssaal betreten musste.
An Mittwochabenden veranstaltete die Pine Grove Church ein Essen, zu dem jeder etwas mitbrachte, und die Anzahl der Gäste war beeindruckend. Die gut besuchte Kirche stand mitten im Ort, für viele Gläubige, die sonntags und mittwochs kamen, war sie nur ein oder zwei Straßenecken entfernt. Die Türen des Gotteshauses waren achtzehn Stunden am Tag geöffnet, und der Pastor, der in einem Pfarrhaus hinter der Kirche wohnte, war jederzeit für seine Schäfchen da.
Der Schmaus fand im Gemeindesaal statt, einem hässlichen Stahlkasten direkt neben der Kirche, wo auf Klapptischen Kasserollen mit Auflauf standen. Außerdem gab es einen Korb mit hellen Brötchen, eine große Kanne mit gesüßtem Tee und natürlich reichlich Wasser in Flaschen. An diesem Abend würden noch mehr Leute kommen als sonst, und alle hofften, dass sich Jeannette zeigen
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