Die Berufung
andere Aufgaben nach.
Vielleicht gelang es ihm, bei diesem Laufan etwas anderes zu denken als an den Prozess. An einen Urlaub. Einen Strand. Aber die Berufung erfüllte ihn schon jetzt mit Sorge.
Mary Grace rührte sich nicht, als er sich aus der Wohnung stahl und die Tür hinter sich schloss. Es war Viertel nach fünf.
Er ersparte sich die Dehnübungen und lief sofort los, über die Hardy Street in Richtung des Campus der University of Southern Mississippi. Die Gegend war ihm wohlvertraut. Er umrundete die Studentenwohnheime - in einem hatte er einst selbst gelebt - und das Footballstadion, wo er gespielt hatte. Nach einer halben Stunde betrat er das Java Werks, den von ihm am meisten geschätzten Coffeeshop, der nur einen Katzensprung von der Universität entfernt war. Er legte vier 25-Cent-Stücke auf die Theke und bestellte eine kleine Tasse Kaffee. Ein Dollar. Fast hätte er gelacht, als er die vier Münzen abzählte. Er musste sich den Kaffee vom Mund absparen und war immer auf der Suche nach Kleingeld.
Am Ende der Theke lagen ein paar Morgenzeitungen. Die fette Schlagzeile auf der Titelseite des Hattiesburg American lautete: »K. o. für Krane Chemical - Jury fordert 41 Millionen«. Es gab ein großes, gelungenes Foto von Mary Grace und ihm, wie sie das Gerichtsgebäude verließen, müde, aber glücklich. Und ein kleineres von Jeannette Baker, die immer noch weinte. In dem Artikel wurden etliche Anwälte und einige der Geschworenen zitiert, wobei ein beeindruckendes Statement von Dr. Leona Rocha auffiel, die bei der Urteilsf indung offenbar ein gewichtiges Wörtchen mitgeredet hatte. Neben anderen prägnanten Formulierungen wurde auch diese zitiert:
»Krane Chemicals arrogante und berechnende Zerstörung unserer Umwelt und das Desinteresse der Firma an der Gesundheit unserer Mitbürger haben uns wütend gemacht. Dasselbe gilt für ihre Versuche, ihre Sünden zu verschleiern.«
Wes liebte diese Frau. Er verschlang den langen Artikel und ließ den Kaffee kalt werden. Die größte Zeitung des Bundesstaats, der in Jackson erscheinende Clarion-Ledger, hatte sich für eine zurückhaltende, aber nicht weniger beeindruckende Schlagzeile entschieden: »Jury befindet Krane Chemical für schuldig - Spektakuläres Urteil«. Weitere Fotos, weitere Zitate, Einzelheiten über den Prozessverlauf, und nach ein paar Minuten blätterte er schon das nächste Blatt durch. Auf der Titelseite des Sun Herald aus Biloxi prangte die bis jetzt beste Schlagzeile: »Jury an Krane: Her mit dem Geld«.
Auch in den überregionalen Tageszeitungen fanden sich Artikel und Fotos auf den Titelseiten. Kein schlechter Tag für die kleine Kanzlei Payton & Payton. Das Comeback hatte bereits begonnen. Die Telefonleitungen in der Kanzlei würden heiß laufen. Potenzielle Mandanten - Scheidungen, Pleiten und hundert andere Missgeschicke, an denen er kein Interesse hatte. Er würde höflich ablehnen und sie an andere um ihre Existenz ringende Rechtsanwälte verweisen, von denen es mehr als genug gab. Jeden Morgen würde er sich nach den großen Fällen umsehen. Ein spektakuläres Urteil, Fotos in den Zeitungen, er und seine Frau waren in aller Munde. Bald würde das Geschäft florieren.
Er trank den Kaffee aus und trat auf die Straße.
Auch Carl Trudeau verließ das Haus vor Sonnenaufgang. Er hätte sich den ganzen Tag in seinem Penthouse verschanzen und es seiner Presseabteilung überlassen können, das Debakel zu erklären. Hätte sich hinter seinen Anwälten verstecken können. In einen Privatjet steigen und zu seiner Villa in Anguilla oder seinem Landsitz in Palm Beach fliegen können. Aber er war noch nie einer unangenehmen Situation aus dem Weg gegangen und hatte nicht vor, jetzt damit anzufangen.
Außerdem hatte er keine Lust, in der Nähe seiner Frau zu bleiben. Am vergangenen Abend hatte sie ihn ein Vermögen gekostet, und er war noch immer sauer.
»Guten Morgen«, sagte er zu dem etwas erschrockenen Toliver, als er auf die Rückbank des Bentley kletterte.
»Guten Morgen, Sir.« Toliver hatte nicht vor, dumme Fragen zu stellen. Es wäre unklug gewesen, sich an diesem Tag nach dem Befinden seines Chefs zu erkundigen. Es war halb sechs - keine ungewöhnliche Stunde für Mr Trudeau, aber eben auch nicht die Regel. Normalerweise fuhren sie eine Stunde später los. Zwanzig Minuten darauf stand Carl in einem eigens für ihn reservierten Aufzug. Bei ihm war sein Privatsekretär Stu, dessen einzige Aufgabe darin bestand, sich sieben Tage
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