Die Berufung
Friedhof gefahren werden solle, gezogen von Blaze, seiner alten Stute. Die kurze Prozession war in Pine Grove so gut angekommen, dass sie ab sofort zum Standardprogramm gehörte.
Als Inez Perdues Sarg sicher auf der Ladefläche abgestellt war, nahm Pastor Ott, der neben Blaze stand, die Zügel. Das alte Quarter Horse zog leicht taumelnd an und rührte die kleine Trauergemeinde von der Kirche über eine Seitenstraße zur rückwärtigen Seite des Friedhofs.
Gemäß der Tradition des Südens folgte dem Abschied ein Leichenschmaus im Gemeindesaal, zu dem jeder etwas beisteuerte. Für Menschen, denen das Sterben so vertraut war, waren diese Trauerfeiern eine Gelegenheit, sich gegenseitig zu trösten und die Trauer zu teilen. Pastor Ott machte seine Runden, redete mit allen, betete mit einigen.
Die große Frage in diesen Momenten war stets: Wer würde der Nächste sein? In vielerlei Hinsicht fühlten sich alle wie zum Tod verurteilt. Isoliert, in ihrem Leid alleingelassen, wussten sie nie, wer als Nächstes vor den Henker geführt würde. Rory Walker, vierzehn Jahre alt, verlor in seinem zehn Jahre währenden Kampf gegen die Leukämie immer mehr an Boden. Wahrscheinlich war er der Nächste. Er war heute in der Schule und konnte nicht dabei sein, aber seine Mutter und Großmutter waren gekommen.
Die Paytons hatten sich mit Jeannette Baker in eine Ecke zurückgezogen, wo sie über alles redeten außer über den Fall. Über Papptellern mit einer spärlichen Portion Brokkoli-Käse-Auflauf erfuhren sie, dass sie inzwischen nachts in einem Kiosk arbeitete und ein Auge auf einen schöneren Trailer geworfen hatte. Mit Bette habe sie ständig Streit - sie habe einen neuen Kerl, der häufig bei ihr übernachte und sich auffällig für Jeannettes Rechtslage interessiere.
Jeannette Baker war augenscheinlich zu Kräften gekommen, und ihr Verstand arbeitete auch wieder klarer. Sie hatte ein paar Pfund zugenommen und sagte, dass sie keine Antidepressiva mehr nehme. Doch die Leute würden sie neuerdings anders behandeln. Unter vorgehaltener Hand erzählte sie von ihren Beobachtungen. »Eine Zeit lang waren alle richtig stolz. Nach dem Motto: Wir haben uns gewehrt. Wir haben gewonnen. Endlich hat uns jemand von draußen zugehört, uns, den armen kleinen Leuten in dieser armen, kleinen Stadt.
Ständig war jemand um mich herum und flüsterte mir Nettigkeiten zu. Sie kochten für mich, putzten mir den Trailer, irgendjemand kam immer vorbei. Für die arme kleine Jeannette war ihnen nichts zu viel. Aber kaum vergingen ein paar Tage, da fingen sie an, mich auf das Geld anzusprechen. Wie lange das Berufungsverfahren dauern würde, wann das Geld fließen würde, was ich damit vorhätte, und so weiter und so fort. Bettes jüngerer Bruder kam eines Abends vorbei, trank sich einen Rausch an und wollte tausend Dollar von mir leihen. Wir gerieten in Streit, und er sagte, jeder in der Stadt wüsste, dass ich schon Geld bekommen hätte. Ich war entsetzt! Die Leute fangen an zu reden. Alle möglichen Gerüchte kursieren. Zwanzig Millionen hier, zwanzig Millionen da. Wie viel wird sie wohl abgeben, fragen sie sich, welches Auto wird sie sich kaufen, wo wird sie ihr schönes neues Haus bauen. Alles, was ich kaufe, wird sofort registriert, und das ist weiß Gott nicht viel. Und die Männer - jeder läufige Hund in diesem County und darüber hinaus ruft an, will vorbeikommen und Hallo sagen oder mich ins Kino einladen. Zwei davon sind noch nicht einmal geschieden, das weiß ich aus sicherer Quelle. Es sind Cousins von Bette. Aber Männer sind mir sowieso völlig egal.«
Wes wandte den Blick ab.
»Sprechen Sie mit dem Pastor?«, erkundigte sich Mary Grace.
»Ab und zu. Er ist wunderbar. Er sagt immer, ich soll für die beten, die über mich reden. Ich bete jeden Abend für sie. Wirklich. Aber ich habe das Gefühl, dass sie für mich und vor allem für das Geld noch viel mehr beten.« Sie sah sich argwöhnisch um und senkte ihre Stimme noch mehr.
Zum Nachtisch wurde Bananenpudding aufgetragen - eine gute Gelegenheit, um sich von Jeannette Baker zu verabschieden. Die Paytons hatten noch ein paar andere Mandanten hier, die sie nicht vernachlässigen durften. Als Pastor Ott und seine Frau anfingen, die Tische abzuräumen, strebten die Trauernden allmählich dem Ausgang zu.
Wes und Mary Grace Payton gingen mit Denny Ott in dessen Arbeitszimmer gleich neben dem Altarraum. Es hatte sich eingebürgert, dass er sie nach den Trauerfeiern auf den aktuellen
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