Die Berufung
gegnerischen Parteien. Krane Chemical, der Berufungsklägerin, wurde zur Einreichung des begründenden Schriftsatzes eine Frist von neunzig Tagen eingeräumt. Sechzig Tage danach würden die Paytons ihre Widerlegung einreichen. In Atlanta wurde das Mammutwerk von Jared Kurtin umgehend an die Berufungsabteilung der Kanzlei weitergeleitet, an die »Eierköpfe«, wie sie im bürointernen Jargon genannt wurden: geniale Gesetzesinterpreten, die im zwischenmenschlichen Bereich größere Defizite aufwiesen, aber wahre Wunder vollbrachten, sobald man sie in eine Bibliothek einschloss. Zwei Partner, vier Mitarbeiter und vier Assistenten arbeiteten bereits auf Hochtouren für das Berufungsverfahren, als die gigantische Mitschrift eintraf. Jetzt, da sie endlich jedes im Prozess geäußerte Wort schwarz auf weiß vor sich hatten, konnten sie das Verfahren bis ins kleinste Detail nachvollziehen und würden zweifellos Dutzende von Gründen für eine Aufhebung des Urteils finden.
In dem heruntergekommenen Viertel von Hattiesburg, in dem die Paytons ihr »Loch« hatten, wurde die umfangreiche Sendung umstandslos auf dem Sperrholztisch abgeladen. Mary Grace und Sherman starrten ungläubig auf den Riesenberg Papier und trauten sich kaum, ihn zu berühren. Mary Grace hatte einmal einen Fall gehabt, der zehn Prozesstage gedauert hatte. Die Mitschrift hatte zwölfhundert Seiten umfasst. Sie hatte sie damals so oft gelesen, dass ihr schon beim Anblick übel geworden war. Und jetzt das.
Wenn sie einen Vorteil auf ihrer Seite hatten, dann lag er sicher darin, dass sie fast das ganze Verfahren über im Gerichtssaal präsent gewesen waren und fast alles selbst gehört hatten, was in dieser Mitschrift stand. Mary Grace kam in der Tat auf mehr Seiten vor als jeder andere Prozessteilnehmer.
Nichtsdestotrotz musste dieses Manuskript viele Male durchgearbeitet werden, und die Sache duldete keinen Aufschub. Verfahren und Urteil würden von den Krane-Chemical-Anwälten ebenso geschickt wie erbarmungslos zerpflückt werden. Jeannette Bakers Rechtsvertreter würden Argument für Argument, Wort für Wort widerlegen müssen.
In der ersten Euphorie nach dem Urteil hatten sie geplant, dass sich Mary Grace auf die Bowmore-Fälle konzentrierte, während Wes die übrigen Mandate bearbeitete, um das Einkommen zu sichern. Die Publicity für die Kanzlei war unschätzbar gewesen, das Telefon hatte nicht mehr stillgestanden. Der gesamte Südosten schien auf einmal dringend die Paytons zu brauchen. Kollegen mit hoffnungslosen Fällen baten um Rat und Hilfe. Familien, die einen der Ihren durch Krebs verloren hatten, sahen in dem Urteil einen Lichtstreif am Horizont. Dazu kam die übliche Palette an angeklagten Straftätern, scheidungswilligen Ehegatten, verprügelten Frauen, Firmenpleiten. Überlebenskünstler, die nach einem Sturz auf der Straße auf ein Zubrot in Gestalt von Schmerzensgeld hofften, und Angestellte, die sich zu Unrecht entlassen fühlten, riefen an oder standen gleich persönlich vor der Tür der berühmten Kanzlei. Die wenigsten konnten ein angemessenes Honorar bezahlen.
Saubere Fälle von Personenschaden waren selten geworden. Der »dicke Fisch«, der perfekte Fall mit eindeutiger Haftung und liquidem Mandanten, der Fall, auf dem die meisten Lebensabendträume beruhten, hatte seinen Weg in die Kanzlei von Payton & Payton noch nicht gefunden. Es gab ein paar mehr Auto- und Arbeitsunfälle, aber nichts, was einen Prozess gelohnt hätte.
Wes Payton bemühte sich fieberhaft, so viele Fälle wie möglich zum Abschluss zu bringen, was ihm bei den meisten auch gelang. Die rückständigen Mieten waren bezahlt, zumindest für das Büro. Ebenso die überfälligen Gehälter. Huffy und die Bank warteten immer noch nervös, wagten aber nicht, mehr Druck auszuüben. Bislang hatte es keinerlei Zahlungen gegeben, weder Tilgung noch Zinsen.
11
Sie entschieden sich für einen Anwalt namens Ron Fisk aus Brookhaven, Mississippi, eine Stunde südlich von Jackson, zwei Stunden südlich von Hattiesburg und fünfzig Meilen nördlich der Staatsgrenze zu Louisiana gelegen. Niemand außerhalb von Brookhaven kannte Fisk. Er war aus einer ganzen Reihe potenzieller Kandidaten ausgewählt worden, von denen keiner auch nur ahnte, wie sorgfältig man ihren Namen und Hintergrund geprüft hatte. Jung, weiß, männlich, in erster Ehe verheiratet, drei Kinder, einigermaßen attraktiv, einigermaßen gut angezogen, konservativ, gläubiger Baptist, Studium an der
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