Die Berufung
altehrwürdigen Fakultät für Rechtswissenschaft der University of Mississippi, keine moralischen Ausrutscher in der bisherigen beruflichen Laufbahn, kein Hinweis auf Gesetzesübertretungen, die über zu schnelles Fahren hinausgingen, keine Zugehörigkeit zu irgendeinem Berufsverband, keine umstrittenen Fälle, keine Vorerfahrung als Richter.
Es gab also keinen Grund anzunehmen, dass irgendjemand, der nicht aus Brookhaven war, den Namen Ron Fisk jemals gehört hatte, und genau das machte ihn zum perfekten Kandidaten. Sie nahmen ihn, weil er gerade alt genug war, um die ohnehin niedrigen Ansprüche an seine juristische Erfahrung zu erfüllen, aber noch jung genug, um ehrgeizig zu sein.
Er war neununddreißig Jahre alt, Juniorpartner in einer Fünf-Mann-Kanzlei, die sich auf Autounfälle, Brandstiftung, Arbeitsunfälle und unzählige andere routinemäßige Haftungsfälle spezialisiert hatte. Die Mandanten der Kanzlei waren Versicherungsgesellschaften, die in aller Regel pünktlich zahlten, sodass den fünf Partnern recht komfortable, wenn auch nicht eben astronomische Gehälter sicher waren. Als Juniorpartner hatte Fisk im Vorjahr zweiundneunzigtausend Dollar verdient. Das waren Peanuts im Vergleich zu den Gehältern der Wall Street, aber für eine Kleinstadt in Mississippi war es nicht schlecht.
Ein Richter am Supreme Court bekam derzeit einhundertzehntausend Dollar.
Fisks Frau Doreen verdiente als stellvertretende Leiterin einer privaten Nervenklinik einundvierzigtausend Dollar im Jahr. Alles, was sie besaßen, war auf Raten gekauft - das Haus, beide Autos, sogar Teile der Einrichtung. Doch sie waren uneingeschränkt kreditwürdig. Einmal im Jahr fuhren sie mit ihren Kindern nach Florida in Urlaub, wo sie für eintausend Dollar die Woche eine Ferienwohnung in einem Apartmenthotel mieteten. Es gab kein Treuhandvermögen, größere Erbschaften vonseiten der Eltern standen ebenfalls nicht aus.
Die Fisks waren blitzsauber. Es gab nichts, das im Verlauf einer schmutzigen Kampagne ans Tageslicht befördert werden konnte. Absolut nichts, da waren sie sich sicher.
Tony Zachary betrat das Gebäude um fünf Minuten vor zwei. »Ich habe einen Termin bei Mr Fisk«, sagte er höflich, woraufhin eine der Sekretärinnen verschwand. Beim Warten musterte er die Umgebung. Wandhohe Regale, überquellend mit verstaubten Büchern. Abgetretene Teppiche. Der muffige Geruch eines prächtigen Altbaus, der eine Renovierung vertragen würde. Eine Tür öffnete sich, und ein attraktiver junger Mann streckte ihm eine Hand entgegen. »Guten Tag, Mr Zachary, mein Name ist Ron Fisk«, sagte er so freundlich wie wahrscheinlich zu jedem neuen Mandanten.
»Freut mich.«
»Das ist mein Büro«, sagte Fisk und machte eine einladende Geste mit der Hand. Sie traten ein, schlössen die Tür hinter sich und ließen sich an einem großen, mit Unterlagen zugedeckten Schreibtisch nieder. Zachary lehnte die angebotene Tasse Kaffee ab, ebenso das Wasser mit oder wahlweise ohne Kohlensäure. »Nein, danke.«
Fisk hatte die Ärmel hochgekrempelt und die Krawatte gelockert und sah aus, als hätte er gerade körperlich gearbeitet. Zachary gefiel seine äußere Erscheinung auf Anhieb. Schöne Zähne, ganz leicht silbrige Schläfen, ein markiges Kinn. Dieser Typ war eindeutig marktfähig.
Sie spielten ein paar Minuten »Wer kennt die meisten Leute?«, wobei Zachary behauptete, schon seit Urzeiten in Jackson zu wohnen und lange Lobbyarbeit, genauer gesagt: Government Relations, betrieben zu haben, was auch immer das heißen mochte. Da er wusste, dass Fisk keine politische Vergangenheit hatte, musste er nicht fürchten, mit seiner Geschichte aufzufliegen. In Wirklichkeit wohnte er noch keine drei Jahre in Jackson und hatte bis vor Kurzem als Lobbyist für eine Vereinigung von Straßenbaufirmen gearbeitet. Es gab einen Senator aus Brookhaven, den sie beide kannten, und so redeten sie ein paar Minuten über ihn - das Thema war beliebig, es diente nur zum Aufwärmen.
Als ihm die Atmosphäre locker genug erschien, sagte Zachary: »Ich muss mich entschuldigen, aber ich bin nicht wirklich ein neuer Mandant. Ich bin in einer viel bedeutenderen Angelegenheit hier.«
Fisk runzelte die Stirn und nickte. Sprechen Sie weiter, Sir.
»Haben Sie jemals von einer Vereinigung namens Judi- cial Vision gehört?«
»Nein.«
Wie die wenigsten. In der unergründlichen Zwischenwelt von Wirtschaftslobbyismus und politischem Consulting war Judicial Vision ein unbeschriebenes
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