Die Berufung
Pete, ein Baum von einem Mann, abgemagert auf runfundfünfzig Kilo, unfähig zu essen, am Ende sogar unfähig, Wasser durch seine von Tumoren zugewucherte Kehle und Speiseröhre rinnen zu lassen. Pete, der harte Kerl, weinend vor Schmerzen, sie um Morphin anbettelnd. Pete, der große Wortführer und Geschichtenerzähler, am Ende nur noch erbarmungswürdig krächzend. Pete, der sie anflehte, allem ein Ende zu machen.
Chads letzte Tage waren relativ ruhig gewesen, Petes dagegen grauenvoll. Was hatte sie nicht alles durchgemacht.
Aber genug der quälenden Erinnerungen. Sie war hier, um über ihr gemeinsames Leben zu reden, ihre Liebe, ihre erste Wohnung in Hattiesburg, Chads Geburt, ihre Pläne für weitere Kinder und ein größeres Haus und all die Träume, über die sie früher zusammen gelacht hatten. Klein Chad mit Angel samt einer eindrucksvollen Sonnenbrasse aus dem Teich ihres Onkels. Klein Chad in seinem ersten T-Ball-Trikot mit Coach Pete an seiner Seite. Weihnachten und Thanksgiving, ein Besuch in Disney World, als beide schon todkrank waren.
Sie blieb, bis es dunkel war, so wie immer.
Denny Ott beobachtete sie vom Küchenfenster seines Pfarrhauses aus. Der kleine Friedhof, den er so liebevoll pflegte, erhielt in letzter Zeit mehr Publikumsverkehr, als er vertragen konnte.
10
Das neue Jahr begann mit einer weiteren Beerdigung. Inez Perdue starb infolge einer langen, schmerzvollen Niereninsuffizienz. Sie war einundsechzig, verwitwet und hinterließ zwei erwachsene Kinder, die Bowmore zum Glück den Rücken gekehrt hatten, sobald sie alt genug gewesen waren. Unversichert starb Miss Inez, wie sie von allen genannt wurde, in ihrem kleinen Häuschen am Rande der Stadt, begleitet von ihren Freunden und Pastor Denny Ott. Der Pastor ging von ihrem Sterbebett aus direkt zum Friedhof, um mit einem anderen Diakon zusammen ihr Grab auszuheben. Das siebzehnte in Folge.
Sobald sich der letzte Besucher im Sterbezimmer verabschiedet hatte, wurde Inez Perdues Leichnam in einem Krankenwagen nach Hattiesburg in die Pathologie des Forrest County Medical Center gefahren. Dort entnahm ein Arzt im Auftrag der Kanzlei Payton drei Stunden lang Gewebe- und Blutproben für eine Autopsie. Miss Inez hatte ein Jahr zuvor in einem Vertrag mit ihren Anwälten eingewilligt, dass ihr Leichnam zum gegebenen Zeitpunkt dieser makaberen Prozedur unterzogen werden durfte. Die Autopsieergebnisse konnten vor Gericht eines Tages den ausschlaggebenden Beweis liefern.
Acht Stunden nach ihrem Tod war sie wieder in Pine Grove, in einem billigen Sarg, der über Nacht im Altarraum der Kirche aufgestellt wurde.
Pastor Ott hatte seinen Schäfchen schon früh eingebläut, dass diesseitige Rituale töricht und bedeutungslos seien, wenn der Körper tot und der Geist in den Himmel aufgefahren sei. Beerdigung, Totenwache, Einbalsamierung, Blumenschmuck und teurer Sarg ... das alles sei Zeit- und Geldverschwendung. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Gott hat uns nackt in diese Welt geschickt, predigte er ihnen, und so sollten wir sie auch wieder verlassen.
Am nächsten Tag leitete er den Trauergottesdienst für Inez Perdue. Die Kirche war voll, auch Wes und Mary Grace Payton waren gekommen sowie ein paar weitere Rechtsanwälte, die das Geschehen mit großem Interesse verfolgten. Pastor Ott bemühte sich nach Kräften - und er hatte allmählich Übung darin -, den Gottesdienst zu einem erbaulichen Ereignis zu machen, indem er den Leuten Anlass zum Schmunzeln gab. Miss Inez hatte in der Kirche aushilfsweise Orgel gespielt. Sie hatte zwar mit Verve in die Tasten gegriffen, dabei aber mindestens die Hälfte der Töne mehr oder weniger haarscharf verpasst. Und da sie praktisch taub gewesen war, hatte sie nie bemerkt, wie schrecklich ihr Spiel klang. Die Erinnerung an ihre Auftritte hob die Stimmung der Trauergemeinde ein wenig.
Es wäre ein Leichtes gewesen, die Chemiefabrik und deren zahlreiche Sünden zu verteufeln, doch Pastor Ott erwähnte Krane Chemical mit keinem Wort. Inez Perdue war tot, und nichts würde daran etwas ändern. Jeder wusste, wer sie umgebracht hatte.
Nach dem einstündigen Gottesdienst hoben die Sargträger den Holzsarg auf Mr Earl Mangrams alten offenen Pferdewagen, wahrscheinlich den einzigen, den es im ganzen Land noch gab. Mr Mangram war eines der ersten Opfer von Krane Chemical gewesen, die dritte Beerdigung in Denny Otts Laufbahn. Er hatte damals verfügt, dass sein Sarg auf dem alten Wagen seines Großvaters von der Kirche zum
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