Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Berufung

Titel: Die Berufung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
Vom Netzwerk:
Aber da sei das Problem mit Richterin Sheila McCarthy und ihrem versteckten Liberalismus. Man könne ihren Entscheidungen nicht trauen. Erstens sei sie geschieden. Und zweitens habe sie angeblich eine ziemlich lockere Moral. Zachary ließ den Satz im Raum stehen, ohne weiter ins Detail zu gehen.
    Um sie herauszufordern, fuhr er fort, brauchten sie diesen Mann hier, Ron Fisk. Er könne ihr Paroli bieten. Zachary stellte in kurzen Zügen die Vita seines Kandidaten vor, wobei er nicht einen einzigen Punkt erwähnte, den die Anwesenden nicht schon längst kannten. Dann gab er an Ron ab, der sich räusperte und sich für die Einladung bedankte. Er begann, von seinem Leben zu erzählen, seiner Ausbildung, seiner Kindheit, seinen Eltern, seiner Frau und seinen Kindern. Er sei gläubiger Christ, Diakon in der St. Luke's Baptist Church und Lehrer in der Sonntagsschule. Außerdem sei er Rotarier, Jäger und Mitglied bei Ducks Unlimited sowie Trainer in der Baseball-Little-League. Er präsentierte seinen Lebenslauf so detailliert wie möglich und zuckte dann die Schultern, als wollte er sagen: Mehr habe ich nicht zu bieten.
    Er hatte mit seiner Frau zusammen für die Entscheidung gebetet. Sie hatten sogar ihren Pastor aufgesucht, um mit ihm zu beten, dem Himmel ein Stück näher, wie sie hofften. Sie fühlten sich gut. Sie waren bereit.
    Noch waren alle freundlich und nett und hocherfreut über seine Anwesenheit. Sie befragten ihn über seinen Background - gab es irgendetwas in seiner Vergangenheit, das ihm nachhängen konnte? Eine Affäre, Trunkenheit am Steuer, ein dummer Studentenstreich an der Uni? Irgendwelche moralischen Fehltritte? Schon mal geschieden? Nein? Gut, das haben wir auch nicht erwartet. Anzeigen wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz? Sonst irgendetwas in der Art? Irgendetwas im Zusammenhang mit Sex? Sex machte jeden Wahlkampf zunichte. Apropos, was war mit Schwulen? Homo-Ehe? Auf keinen Fall! Eingetragene Lebenspartnerschaft? Nein, Sir, nicht in Mississippi. Adoptionsrecht für Schwule? Nein, Sir.
    Abtreibung? Dagegen. Grundsätzlich? Ja.
    Todesstrafe? Ganz klar dafür.
    Niemand störte der offensichtliche Widerspruch der beiden letzten Punkte.
    Wie stand es mit Waffen, dem zweiten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, dem Recht, Waffen zu tragen, und so weiter? Ron liebte seine Waffen, fand es aber befremdlich, dass sich ausgerechnet diese Leute dafür interessierten, die sich die Religion auf ihre Fahne geschrieben hatten. Doch dann traf ihn die Erkenntnis - hier ging es um Politik, um den Wahlsieg, um nichts anderes. Dass er von Kindesbeinen an gejagt hatte, fand großen Anklang, und er hielt sich so lange wie möglich bei dem Thema auf. Man musste glauben, er wäre eine ernste Gefahr für die Tierwelt.
    Dann stellte der Leiter von Family Roundtable mit schriller Stimme ein paar Fragen zum Thema Trennung von Staat und Kirche, bei denen die anderen einzunicken drohten. Ron stand seinen Mann, wägte seine Antworten sorgfältig ab. Die wenigen, die noch zuhörten, wirkten zufrieden. Allmählich dämmerte ihm, dass das alles nur Theater war. Die Herren hatten sich entschieden, lange bevor er heute Morgen Brookhaven verlassen hatte. Was hier passierte, war eine reine Proforma-Angelegenheit. Er war ihr Mann. Davon brauchte er sie an dieser Stelle nicht mehr zu überzeugen.
    Die nächsten Fragen befassten sich mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung, insbesondere auf religiösem Gebiet. »Sollte der Richter einer Kleinstadt in seinem Gerichtssaal die Zehn Gebote aufhängen dürfen?« Fisk spürte, dass dieser Punkt für seine Zuhörer offenbar von zentraler Bedeutung war. Im ersten Moment war er geneigt, offen und ehrlich zu antworten und Nein zu sagen. Der U. S. Supreme Court hatte entschieden, dass es eine Verletzung der Trennung von Kirche und Staat bedeute, und Ron war zufällig derselben Meinung. Da er aber die Versammlung nicht gegen sich aufbringen wollte, erwiderte er: »Eines meiner großen Vorbilder war ein Richter vom Circuit Court in Brookhaven.« Er wand sich etwas. »Ein großer Mann. Er hatte die Zehn Gebote dreißig Jahre lang an der Wand hängen, und ich habe ihn immer bewundert.«
    Eine clevere Nichtantwort, die als das anerkannt wurde, was sie war. Mr Fisk hatte damit ein gewisses Maß an rhetorischem Geschick gezeigt, das ihm in der Hitze des Gefechts im Wahlkampf von Nutzen sein würde. Es gab keine Nachfragen, keine Einwände. Schließlich waren sie alle gestählte

Weitere Kostenlose Bücher