Die Berufung
sie zu dem Schluss gekommen, dass der Fahrer die Schuld trug. Ihre Erkenntnisse behielt sie natürlich für sich. Die Geschworenen waren die Tatrichter, nicht sie. Nichtsdestotrotz wurde sie oft von einer eigentümlichen Neugierde an den Tatort gelockt. Sie wollte die Wahrheit selbst herausfinden.
Bowmore war genauso öde wie in der Zeitschrift beschrieben. Sie parkte zwei Straßen entfernt von der Main Street hinter einer Kirche und ging zu Fuß los. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass es in dieser Stadt ein zweites rotes BMW-Cabrio gab, und sie wollte auf keinen Fall Aufmerksamkeit auf sich lenken.
Selbst für einen Samstag war wenig los. Die Hälfte der Läden war mit Brettern vernagelt, und von denen, die noch betrieben wurden, war auch nur ein Teil geöffnet. Eine Apotheke, ein Supermarkt, ein paar Einzelhändler. Vor der Kanzlei F. Clyde Hardin & Partner blieb sie stehen. Der Name war auch in dem Artikel erwähnt worden.
Ebenso wie Babe's Coffeeshop, wo Sheila sich am Tresen niederließ und gespannt daraufwartete, etwas über den Fall zu erfahren. Sie sollte nicht enttäuscht werden.
Es war kurz vor zwei, und außer ihr saß niemand an der Bar. Zwei Mechaniker aus der örtlichen Chevrolet-Werkstatt hockten bei einem späten Mittagessen in einer der vorderen Nischen. Das Lokal war ruhig, angestaubt, die Wände vertrugen einen neuen Anstrich, der Boden gehörte geschliffen. Es sah aus, als hätte sich seit Jahrzehnten hier nichts verändert. Die Wände waren übersät mit Footballtabellen bis zurück ins Jahr 1961, Klassenfotos, alten Zeitungsausschnitten - wer auch immer etwas zeigen wollte, durfte das hier tun. Ein großes Schild verkündete: »Wir benutzen nur abgefülltes Wasser aus Flaschen.«
Babe stand am anderen Ende des Tresens und grüßte mit einem freundlichen »Was darf's denn sein, die Dame?«. Sie trug einen gestärkten weißen Kittel und eine makellose burgunderrote Schürze, auf der in rosa Buchstaben »Babe« prangte, dazu weiße Hosen und weiße Schuhe. Sie hätte einem Fünfziger-Jahre-Film entspringen können. Wahrscheinlich stammte sie tatsächlich aus dieser Zeit; dafür war ihr hochtoupiertes Haar allerdings ziemlich auffallend gefärbt. Es traf fast den Farbton der Schürze. Sie hatte die faltigen Augen einer Raucherin, wobei die tiefen Furchen der dicken Schicht Makeup nicht gewachsen waren, mit denen sie sie allmorgendlich kalfaterte.
»Nur ein Schluck Wasser«, sagte Sheila. Das Wasser interessierte sie besonders.
Beim Herumhantieren blickte Babe fast die ganze Zeit traurig durch die großen Fenster auf die Straße hinaus. Sie nahm eine Tasse und konstatierte: »Sie sind nicht von hier.«
»Auf der Durchreise«, erklärte Sheila. »Ich habe Verwandtschaft drüben in Jones County.« Und das stimmte sogar. Eine entfernte Tante, die möglicherweise sogar noch lebte.
Babe stellte ein 0,2-Liter-Fläschchen mit der Aufschrift »Abgefüllt für Bowmore« vor sie und erzählte, dass sie auch Verwandte in Jones County habe. Ehe sie tiefer in die Ahnenforschung einsteigen konnte, wechselte Sheila hastig das Thema. In Mississippi war irgendwie jeder mit jedem verwandt.
»Was ist das denn?«, fragte sie und hielt die Flasche hoch.
»Wasser«, antwortete Babe mit einem Ausdruck des Erstaunens.
Sheila musterte die Flasche ausgiebig, damit Babe Gelegenheit hatte, sie aufzuklären. »Unser ganzes Wasser hier in Bowmore kommt aus Flaschen«, fuhr Babe denn auch fort. »Wird von Hattiesburg hergefahren. Das Zeug, das hier aus der Erde gepumpt wird, kann man nicht trinken. Woher kommen Sie denn?«
»Von der Küste.«
»Noch nie vom Bowmore-Wasser gehört?«
»Tut mir leid.« Sheila schraubte den Deckel ab und nahm einen Schluck. »Schmeckt wie Wasser.«
»Sie sollten mal das andere Zeug probieren.«
»Was stimmt denn damit nicht?«
»Ach, du lieber Himmel«, sagte Babe und sah sich prüfend um, ob irgendjemand diese schockierende Frage mitbekommen habe. Da war sonst niemand, und so öffnete sich Babe eine Flasche Cola light und schlurfte näher heran. »Schon mal vom Krebs-County gehört?«
»Nein.«
Wieder ein ungläubiger Blick. »Das sind wir. Dieses County hat die höchste Krebsrate des ganzen Landes, weil hier das Trinkwasser verseucht ist. Es gab hier mal eine Chemiefabrik, Krane Chemical, ein Haufen Schlauberger aus New York. Viele Jahre lang - zwanzig, dreißig, vierzig, je nachdem, wem man glaubt - haben sie allen möglichen giftigen Scheiß - verzeihen Sie meine
Weitere Kostenlose Bücher