Die Berufung
den Gottesdienst, engagieren uns in unserer Gemeinde. Wir sind gesegnet und danken Gott jeden Tag für seine Güte. Wir danken Gott für diese Kirche und für Freunde wie euch. Ihr seid unsere Familie.«
Wieder hielt er nervös inne.
»Ich stelle mich als Kandidaten für den Supreme Court zur Wahl, weil ich die Werte hochhalte, die wir miteinander teilen. Werte, die auf der Bibel und auf unserem Glauben an Gott beruhen. Die Unantastbarkeit der Familie - Mann und Frau. Die Unantastbarkeit des Lebens. Die Freiheit, das Leben genießen zu können, ohne Angst vor Verbrechen und staatlichen Eingriffen haben zu müssen. Genau wie ihr bin auch ich entsetzt über den Verfall unserer Werte. Sie werden von unserer Gesellschaft angegriffen, von unserer verkommenen Kultur und von vielen unserer Politiker. Und ja, auch von unseren Gerichten. Ich verstehe meine Kandidatur als den Kampfeines Mannes gegen liberale Richter. Mit eurer Hilfe kann ich ihn gewinnen. Vielen Dank.«
Ron hatte sich zum Glück kurz gefasst - die Predigt des Pastors stand noch bevor -, und seine Worte kamen so gut an, dass höflicher Applaus durch das Kirchenschiff hallte, als er an seinen Platz zurückkehrte und sich zu seiner Familie setzte.
Zwei Stunden später, als die weißen Kirchgänger in Brookhaven beim Mittagessen saßen und die schwarzen gerade erst in Fahrt kamen, betrat Ron über ein paar mit rotem Teppich ausgelegte Stufen das gewaltige Podest der Mount Pisgah Church of God in Christ auf der Westseite der Stadt und lieferte eine längere Version seiner Rede vom Morgen ab. (Das Wort »liberal« ließ er dieses Mal weg.) Bis vor zwei Tagen hatte er den Pastor der größten schwarzen Kirchengemeinde von Brookhaven gar nicht gekannt. Ein Freund hatte ein paar Beziehungen spielen lassen und eine Einladung zustande gebracht.
Am Abend, während des lautstarken Gottesdienstes einer Pfingstgemeinde, ergriff er das Geländer der Kanzel und wartete, bis der Lärm sich gelegt hatte. Dann nannte er seinen Namen und brachte sein Anliegen vor. Er ignorierte seine Notizen und sprach länger als geplant. Wieder waren es die Liberalen, gegen die er wetterte.
Als er nach Hause führ, wurde ihm mit einem Mal bewusst, wie wenig Leute er in seiner kleinen Stadt kannte. Seine Mandanten waren keine Menschen, sondern Versicherungsunternehmen. Nur selten hatte er sich aus der Sicherheit seines Viertels, seiner Kirche, seines sozialen Umfelds herausgewagt. Und im Grunde genommen wäre es ihm lieber gewesen, wenn er dort hätte bleiben können.
Am Montagmorgen um 9.00 Uhr stand er auf der Treppe des Gerichtsgebäudes, zusammen mit Doreen und den Kindern, seinen Kollegen von der Kanzlei, vielen Freunden, einigen Angestellten und Besuchern des Gerichts und fast allen Mitgliedern der Rotarier, und teilte dem Rest des Staates mit, dass er für den Supreme Court kandidierte. Es war nicht als Medienereignis geplant, und nur wenige Reporter und Fernsehteams waren gekommen.
Barry Rineharts Strategie bestand darin, erst am Wahltag zur Höchstform aufzulaufen, nicht schon bei der Bekanntgabe der Kandidatur.
Ron hielt seine sorgfältig formulierte und einstudierte Rede, was fünfzehn Minuten dauerte, in denen es eine Menge Applaus gab. Nachdem er alle Fragen der Reporter beantwortet hatte, zog er sich in einen kleinen, leeren Gerichtssaal zurück und gab dort einem Reporter, der vom Politikressort der Zeitung von Jackson kam, ein dreißigminütiges Exklusivinterview.
Dann zog Ron mit seiner Entourage drei Blocks weiter die Straße hinunter, wo er seine offizielle Wahlkampfzentrale eröffnete. Sie war in einem alten Gebäude untergebracht, das man frisch gestrichen und mit Wahlkampfslogans dekoriert hatte. Bei Kaffee und Keksen unterhielt er sich mit Freunden, posierte für Fotos und ließ ein weiteres Interview über sich ergehen, dieses Mal mit einer Zeitung, von der er noch nie etwas gehört hatte. Auch Tony Zachary war da. Er beaufsichtigte die Feierlichkeiten und sah ständig auf die Uhr.
Zur gleichen Zeit wurde an jede Zeitung des Staates Mississippi und an die großen Tageszeitungen im Südosten eine Pressemitteilung zu seiner Kandidatur verschickt. Sie ging auch an alle Mitglieder des Supreme Court, alle Mitglieder der Legislative, alle gewählten Amtspersonen des Staates, alle eingetragenen Lobbyisten, Tausende Angestellte von Behörden sowie alle zugelassenen Ärzte und Anwälte. Im südlichen Bezirk gab es dreihundertneunzigtausend registrierte Wähler. Rineharts
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