Die beste Lage: Roman (German Edition)
Holz sie geschnitzt waren. Während alle anderen eifrig die vom Genossen Stalin durchgeführte Agrarreform feierten – die, nebenbei bemerkt, bereits einige Millionen Hungertote gekostet hatte –, spazierten die beiden nur umher, plauderten, pafften demonstrativ ihre Zigarren und ignorierten außerdem geflissentlich die ihnen anempfohlene Anmeldung zum Kurs an der Internationalen Schule des Leninismus.
So brauchten sich die beiden Exilanten kaum eine Woche nach ihrer Ankunft, als sie sich – wie die meisten der anderen Spaziergänger – mit finsterer Miene, frierend und hungrig in der Gegend der Tretjakow-Galerie herumtrieben, nur in die Augen zu sehen, um zu begreifen, was einzugestehen sie noch nicht den Mut gefunden hatten, dass sie nämlich eine Riesendummheit begangen hatten. Aber jetzt waren sie Deserteure, und eine Rückkehr nach Italien hätte bedeutet, sich dem Erschießungskommando auszuliefern – vorausgesetzt, es wäre überhaupt möglich, der großen Mutter Russland den Rücken zu kehren; auch daran waren ihnen allmählich Zweifel gekommen. Nachdem sie sich geweigert hatten, gegen einen Hungerlohn in der Kugellagerfabrik Kaganowitsch oder auf einer der tausend Baustellen zu malochen, wie es ihnen die Vorsitzenden des Internationalen Klubs der Emigranten empfohlen hatten, wo sie, inzwischen ohne einen einzigen Rubel, wieder aufgetaucht waren, um sich nach einer Arbeit und einer entsprechenden Unterbringung zu erkundigen, beschlossen sie endlich, den oft gehörten Rat – Dann arrangiert euch gefälligst! – zu befolgen, wozu sie nicht nur ihr besonderer Status als Schöngeist respektive Tagedieb drängte, sondern auch ihre Zugehörigkeit zum Stamm der Italiener, der, dem Gemeinplatz zufolge, diese Übung mehr als alles andere zur Kunst erhoben hat.
Russischer Realismus
Und um diese Zeit herum war es, dass sich Ernesto an Michail Nikolajewitsch Trepulow erinnerte, einen symbolistischen Maler, der während der zehn Jahre seines Exils, die er auf Capri verbracht hatte, der Freund seiner Freunde geworden war und ihnen jetzt vielleicht weiterhelfen könnte.
An dem Tag, an dem sie sich mit diversen Vehikeln und dann noch ein gutes Stück zu Fuß, bis zu den Knien im Schnee versinkend, zu Trepulows einsam in der ländlichen Umgebung von Moskau gelegenen Datscha begaben, war es so kalt, dass die Krähen steif wie Stockfische vom Himmel fielen und das Eis den beiden Freunden die Nasenlöcher verstopfte und die Augen verklebte. Derart in seiner Sicht behindert, vermeinte Ernesto, als er das Atelier des Malers betreten hatte, er sehe statt der grandiosen traumähnlichen Gemälde – schwarze Inseln mit kühnen Bergzacken, umgeben von lodernder Glut, die sich aus dem von Nixen und Tritonen schuppig glänzenden Wasser erhoben; oder geheimnisvolle, zwischen dem dunklen Grün der Zypressen versteckte Ruinen, in denen sich missgestaltete Götter und atemberaubende Vestalinnen tummelten –, statt all dieser wunderbaren Bilder also, die er in den schönsten Villen der Insel des Tiberius bewundert hatte, vermeinte er nun plötzlich riesige, im orthodoxesten sowjetischen Realismus bemalte Leinwände zu erblicken: Porträts von Väterchen Stalin, allein oder umringt von heroischen Kämpfern für die Revolution oder von stolzen Bauern, die unter roten Fahnen Hymnen schmetterten.
Doch nachdem Ernesto sich mehrmals die Augen gerieben hatte, musste er sich mit der traurigen Realität abfinden. Diese Werke, die trotz allem ein höchst anschauliches Beispiel dafür lieferten, dass wahres Talent sich auch dann Bahn bricht, wenn es sich an solchen Themen austobt, waren ein weiterer entmutigender Beweis dafür, dass wirklich niemand dem Schicksal der Knechtung, das dieses stolze Volk im Würgegriff hielt, entgehen konnte.
Michail Nikolajewitsch Trepulow, ein langbärtiger, verlotterter Riese, der im Jutekittel vor ihnen saß, hatte nichts mehr von dem Dandy mit Panamahut und weißen Anzügen aus irischem Leinen, der von den Fotos, die seine Capreser Freunde zusammen mit seinen Bildern aufbewahrten, herunterlächelte und auf denen er in Begleitung schöner Frauen, herausgeputzter Gecken und junger Bohemiens im Schatten üppig blühender Pergolen oder auf luftigen Terrassen vor dem Hintergrund der Faraglioni-Felsnadeln zu sehen war. Dennoch beschloss Ernesto Dell’Arco, nachdem er so große Hoffnung auf ihn gesetzt hatte und weil sie jetzt schon einmal da waren, ihn um Hilfe anzugehen. Und so schilderte er ihm in seinem
Weitere Kostenlose Bücher