Die beste Lage: Roman (German Edition)
die zu unternehmen er sich angewöhnt hatte, da er zwischen sich und seinen alten Gefährten eine immer größere Distanz spürte, äugte Graziantonio in die Fenster der historischen Palazzi hinein und stellte sich vor, wie golden das Leben jener Glücklichen sein musste, die dort wohnten, und es deprimierte ihn, dass auch er, ein armer, verachteter Auswärtsstudierender, sich in diesem Glanz sonnen könnte, wenn sein Vater nicht ein solcher Schuft wäre. Doch nicht nur das – er hatte auch diese Lokale bemerkt, die in der Gegend zwischen dem Pantheon und der Piazza Navona wie Pilze aus dem Boden schossen und stets so rappelvoll waren, dass man, um hineinzukommen, Schlange stehen musste.
Das Publikum, das aus Studenten oder jungen Berufsanfängern bestand, erwies sich schon auf den ersten Blick als ganz anders als die Jugend, die in jenen Jahren die Schlagzeilen beherrschte. Dieser Eindruck bestätigte sich, als sich Graziantonio, nachdem er die angeborene Scheu des Provinzlers überwunden hatte, ebenfalls in die Schlange stellte und dem Geplauder der Umstehenden lauschte. Offensichtlich kam er hier mit etwas in Berührung, was in der zeittypischen Sprache als »echte Avantgarde« bezeichnet wurde. Sie mochte im Augenblick noch irrelevant sein, würde aber bald wachsen und sich, wie die Geschichte es lehrt, als siegreich erweisen, denn sie bestand aus jungen Leuten, die, statt ihre Tage mit abstrusen Debatten zu vergeuden oder stinklangweiliges hektografiertes Zeug in Umlauf zu bringen oder Molotowcocktails zu basteln oder Jagd auf das feindliche, aber ebenso fanatische Lager zu machen, bewaffnet mit Äxten oder Schraubenschlüsseln Nr. 32, die am meisten à la page waren, um dem Gegner die Knochen zu brechen und seine Gehirnmasse über die Straßen der Stadt zu verteilen, die mindestens einen, maximal aber zwei Tote pro Woche zu sehen bekam – was für unvergessliche Zusammenstöße das waren! –, während wir es hier hingegen mit jungen Leuten zu tun hatten, in deren Augen es gewinnbringender und vergnüglicher war, tagsüber ein bisschen zu studieren und zu jobben, um sich dann am Abend zu treffen, Musik zu hören, ein paar Bierchen zu trinken und nebenbei zu versuchen, mit einem der Mädchen anzubandeln, die in diesen neuen Lokalen in großer Zahl anzutreffen waren.
Kapitalismus in der Urform
Und ein solches Lokal neuen Stils zu eröffnen, wurde zu Graziantonios fixer Idee. Einen Standort hatte er sich auch schon ausgeguckt: eine alte Remise unweit der anderen Lokale, sodass man am Anfang von deren Anziehungskraft profitieren konnte. Der Knackpunkt war nur – mit welchen Mitteln?
Seinen Vater um Geld zu bitten, kam nicht in Frage. Das hieße zuzugeben, dass, genau wie Michelantonio gesagt hatte, die Immatrikulation für Philosophie ein Irrtum gewesen war, und diese Genugtuung wollte er ihm nun wirklich nicht verschaffen, zumal es ihm auch gar nichts genutzt hätte.
Michelantonio wollte ihn in der Firma haben, in Potenza, und er wäre bestimmt lieber gestorben, als auch nur mit einer einzigen Lira herauszurücken, damit er, der Filius, in Rom bleiben konnte, wozu dieser fest entschlossen war. In diesem Punkt war Graziantonio wirklich unbeugsam: Er und Flaschen mit Limonade abfüllen – ja, kann es überhaupt ein hinterwäldlerischeres Getränk geben? Nein, zurückkehren würde er niemals! Er fühlte sich zu anderen, ehrgeizigeren Zielen berufen. Doch das Problem blieb: Wie kam er an das nötige Geld heran?
Bis er sich eines Nachmittags, als er nichts anderes zu tun hatte, noch einmal seinen »Mitbewohnern« – mehr als das konnte er in ihnen schon nicht mehr sehen – anschloss und sie zu einer jener im Wochenrhythmus stattfindenden Demonstrationen der demokratischen Studentenbewegung begleitete: eine von vielen Möglichkeiten, mit weiblichen Wesen in Berührung zu kommen, denn der Mangel an denselben stellte einen weiteren Aspekt – einen der schmerzhaftesten – von Graziantonios freudloser Existenz dar.
Er betrachtete die wildesten Revolutionäre, die immer in vorderster Front marschierten und am auffälligsten daherkamen: Leninmützen auf ungepflegten Haaren, kubanische Bärte, Stalin-Schnauzer in Gesichtern, die in jedem Fall schlecht rasiert waren, sich zum Teil aber auch fast zur Gänze unter Helmen und hinter Tüchern versteckten. Ausstaffiert waren sie mit Parkas und Cordsamtjacken, Holzfällerhemden, peruanischen Pullovern, Umhängetaschen der Marke Tolfa – Tolfa-Taschen en masse –,
Weitere Kostenlose Bücher