Die beste Lage: Roman (German Edition)
vielleicht wirklich nicht das richtige Fach für ihn, aber jetzt stand er seinen Freunden gegenüber im Wort und konnte nicht das Gesicht verlieren, nur um seinen Vater zufriedenzustellen, zumal der auch dann nicht zufrieden gewesen wäre, wenn er die Fakultät gewechselt hätte. Das hatte er ihm ja gerade klargemacht. Seiner Meinung nach war der Zeitpunkt gekommen, an dem sein Sohn ihn bei der Leitung der Briosa unterstützen sollte, aber genau das wollte Graziantonio nicht. Allein schon die Vorstellung, den Rest seines Lebens unter der väterlichen Fuchtel Limonade in Flaschen abzufüllen, stürzte ihn in tiefste Verzweiflung. Vor allem aber wollte er so rasch wie möglich aus Potenza verduften. Diese Stadt hasste er in jeder Hinsicht. Nicht dass er keine Gründe dafür gehabt hätte – man hatte ihn hier wirklich nicht mit offenen Armen empfangen –, doch seine Aversion war so absolut und abgrundtief, dass sie keine rationale Begründung mehr zuließ. Sagen wir einfach, dass er an den falschen Ort geraten war und diesem niemals nachtrauern würde, da war er sich sicher. So wie er sich letzten Endes auch sicher war, dass er seinem Vater, der wohl in mancher Hinsicht recht hatte, niemals recht geben würde. Und so fand er sogar den Mut zu sagen: »Papà, du kannst mich erschlagen, aber ich habe mich für die Philosophie entschieden, und dabei bleibe ich.«
Pater semper incertus
Michelantonio blieb also nichts anderes übrig, als sich in seinem Groll zu verzehren, ja, es kamen ihm irgendwann sogar Zweifel, ob Graziantonio wirklich sein eigen Fleisch und Blut war. Doch konnte er an Donna Cesidia überhaupt zweifeln? An einer Frau, die sich den auch ihm bekannten liebenswürdigen Beinamen Dörrfeige erworben hatte? Ganz zu schweigen davon, dass der Bursche ihm ähnelte wie ein Ei dem anderen.
Wahrscheinlicher war, dass er etwas von dem armen Ernesto geerbt hatte … Doch sosehr sich der Industrielle auch bemühte, er konnte in Graziantonio – zu seiner Erleichterung, muss man sagen – nichts von seinem Vetter erkennen. Ja, je mehr er ihn, vielleicht zum ersten Mal nach Jahren der Gleichgültigkeit, beobachtete, desto mehr glaubte er, in ihm seine eigenen Qualitäten auszumachen – wenn auch gewiss in einer niedrigeren Dosierung, da er sich selbst für einmalig und großartig und unvergleichlich hielt. Da war zum Beispiel die Standfestigkeit, die er während des morgendlichen Streits und während der vielen anderen, die noch folgen sollten, an den Tag gelegt hatte. Allerdings waren besagte Eigenschaften tief vergraben und fast erstickt. Es bräuchte etwas, was sie ans Licht des Tages fördern und es dem Jungen ermöglichen würde, sich zu befreien wie der Schmetterling vom Kokon, auch wenn man im Fall von Graziantonio, der noch hässlicher war als sein Vater – und das war der einzige Vorrang, den Michelantonio ihm einzuräumen bereit war –, höchstens vom Kokon einer Spinne sprechen könnte. Da es ihm also nicht gelang, den Erben von seiner unvernünftigen Entscheidung abzubringen, beschloss er, ihm den Geldhahn zuzudrehen und ihn für sein Studium mit dem absoluten Minimum auszustatten, denn seiner Meinung nach bestand die letzte verbleibende Möglichkeit, aus ihm einen Mann nach seinem Geschmack zu machen, darin, ihn die Härte des Lebens spüren zu lassen. Abgesehen davon, dass er auf diese Weise ein paar Lire sparen konnte.
Das Leben eines Auswärtsstudierenden
In der Tat war der Zusammenprall mit der besonderen Wirklichkeit des Auswärtsstudierenden, anders als für seine Freunde, die von dieser Wirklichkeit sofort begeistert waren, für Graziantonio, der an die Annehmlichkeiten gewöhnt war, welche ihm seine Mutter trotz der Knickrigkeit ihres Mannes bis dahin verschafft hatte, gelinde gesagt erniedrigend, wie seine innere Stimme, die er im Laufe der Jahre vergeblich zum Schweigen zu bringen versucht hatte, immer aufdringlicher hervorhob und die jetzt in seinem Inneren schrie: ›So eine Scheißbude! Und da möchtest du wohnen? Bist du eigentlich noch bei Trost?‹, während er sich zwang, Gian Ettore Orsenigro und Ugo Rinaldi zuzulächeln, die entzückt waren, nach tagelanger Suche endlich eine Bleibe gefunden zu haben, und das sogar am Ende der Via Casilina, in der tristesten Vorstadtgegend von Rom. Und in der Mensa bekam er das heulende Elend – »Wer kriegt schon so einen Fraß runter?« – angesichts der verkochten und schmierigen Pastagerichte, die Gian Ettore und Ugo glückselig
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