Die beste Lage: Roman (German Edition)
seine Schritte in ebenjene Richtung des Klosters lenkte.
Dort zog er aus dem ersten Regal, vor dem er stand, aufs Geratewohl eines der vielen hundert Register heraus, und als er es öffnete, hielt er die Geburtsurkunde von Graziantonio Dell’Arco in Händen, auf der in Schnörkelschrift zu lesen stand:
Dell’Arco Graziantonio, Sohn von NN , ausgesetzt und aufgefunden zu Ferrandina, unter dem Bogen dieser Kirche, von den beiden Gemeindemitgliedern Zerla Antonio und Geranio Grazia. Aus diesem Grunde wurde ihm der Name Dell’Arco Graziantonio verliehen.
Den 21. Dezember 1830.
Leben als Schlossherr
In exakt derselben Sekunde saß Yarno Cantini del Canto degli Angeli schlaff auf seinem Lieblingssessel in dem imposanten Schloss seiner Ahnen im Chianti-Gebiet, zwischen dem Bösendorfer Imperial – Musikenthusiasten als »Rolls-Royce unter den Konzertflügeln« bekannt – und der Terrassentür, die einen Mandelbaum und eine aus dem achtzehnten Jahrhundert stammende Diana aus Alabaster einrahmte, und während ihn von draußen durch ein zum Garten schauendes Fenster eine Gruppe neugieriger Touristen beäugte, fragte er sich, warum er Graziantonio Dell’Arco eigentlich so sehr hasste.
Vielleicht hasste er ihn, weil das Leder des Sessels, auf dem sein adliger Hintern ruhte, eher zerschlissen als antik war, und weil der Bösendorfer zweifellos »Imperial« war, aber mit seinem mäusedreckübersäten Deckel und dieser Tastatur, die dank der vielen Lücken an das Gebiss eines Heroinabhängigen erinnerte, in keiner der vielen Residenzen, über die Graziantonio verfügte, einen Platz gefunden hätte? Vielleicht verspürte er diese tiefe Aversion, weil er, Yarno, der Conte, seine Schulden in den Griff bekommen musste und daher gezwungen war, sein Schloss ganzen Horden von Touristen zu öffnen, wie in diesem Moment, oder es, was am folgenden Morgen der Fall sein würde, für entsetzliche Proletenhochzeiten zu vermieten, während dieser Dell’Arco in seinen vielen Domizilen nur die Leute beherbergte, die ihm wirklich behagten – darunter Dutzende außergewöhnlicher Frauen von Titelbildqualität. Vielleicht hasste er Dell’Arco Graziantonio auch, weil der ebendiesen Frauen die unvorstellbarsten Geschenke machen konnte, nachdem er sie in die besten Restaurants ausgeführt hatte, wohin er sie mit einer Luxuskarosse aus seinem Fuhrpark hatte kutschieren lassen, und das Verstreichen jener köstlichen Stunden von seinen diversen Chronografen, reinen Sammlerstücken, messen ließ, während er, Yarno, sich mit dem altertümlichen Bentley der Familie begnügen musste, einer Art Bestattungswagen, in dem es jämmerlich zog. Außerdem war er, um den Schein zu wahren, genötigt, sich wie ein Dandy zu gebärden, obwohl er sich wirklich nur abgetragene Kleider leisten konnte, nicht etwa solche, wie sie Lord Brummell ad hoc von seinem Stallknecht hatte ruinieren lassen – aber was für einen Geschmack der hatte, dieser Brummell! –, und er konnte überhaupt nur dann an einem anständigen Ort essen, wenn er eingeladen wurde. Und bei alledem musste er obendrein noch Begeisterung für die schimmligen Bücher heucheln, die er nicht einmal mit spitzen Fingern angefasst hätte, wenn die Schlossbibliothek sie nicht gratis ausspucken würde, oder für die alten abgetretenen kaukasischen Teppiche, die ihm nach der Rückkehr von seinen Abenteuerreisen niemand hatte abkaufen wollen – obwohl sie sich gut verkauft hatten, als er noch jung war –, denn statt der Trekkingreisen nach Nepal oder den einsamen Ozeanüberquerungen, zu denen er sich jetzt gezwungen hatte, um cool zu sein, hätte auch er es vorgezogen, seine Traumziele im Privatflugzeug oder an Bord einer großen, mit jedem Komfort ausgestatteten Yacht zu erreichen, wie Graziantonio Dell’Arco es tat.
Aber bei genauerem Nachdenken hätte er, wenn dies wirklich seine Motive gewesen wären, den größten Teil der Leute, mit denen er zu tun hatte, hassen müssen, denn Yarno Cantini del Canto degli Angeli war der lebende Beweis dafür, dass man mit der Creme der Gesellschaft Umgang pflegen und dennoch ein großer, ein authentischer, ein unvergleichlicher armer Schlucker sein konnte, denn neben der imposanten Festung hatte er einen ebenso imposanten Schuldenberg geerbt, den er nur dank des Unternehmens, das er mit seinem Wein aufgezogen hatte, mühsam abtragen konnte. Und auch die in der Presse so hochgejubelte Nachricht, dass Dell’Arco es sich in den Kopf gesetzt hatte, jetzt ebenfalls
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