Die beste Lage: Roman (German Edition)
unter die Weinproduzenten zu gehen – eine Nachricht, die Yarno als eine derartige Bedrohung seiner einzigen Einkommensquelle empfunden hatte, dass es dann bei dem berühmten Diner zu seinem Ausraster gekommen war –, hätte sie je den Hass erklären können, den er dem lukanischen Tycoon gegenüber hegte? Waren Herstellung und Vertrieb von Wein nicht die neueste, unwiderstehliche Marotte der Superreichen, zu denen wirklich viele von Yarnos Freunden zählten?
Die Wühlarbeit der Zeit
Nein, es gab einen anderen Grund. Einen tieferen. Einen Grund, der in Yarnos DNA eingebrannt war, ihm aber für immer unbekannt bleiben würde.
Der toskanische Graf, für dessen grauenhaften Tod Graziantonio Dell’Arcos Ururgroßvater gesorgt hatte, war niemand anderer als sein Ururgroßvater gewesen, dessen Schicksal Yarno als Kind zutiefst berührt hatte, wenn er stundenlang auf dem kleinen Familienfriedhof das schöne, in den blassen Marmor gehauene Gesicht betrachtete, das seinem eigenen wie ein Ei dem anderen glich, und unter den sich im Wind wiegenden Zypressen immer wieder die in den Stein eingemeißelte Inschrift las, die seinen Ururgroßvater verherrlichte:
HEROISCH IN DER BLÜTE SEINER JAHRE GEFALLEN
VON DER NIEDERTRÄCHTIGEN HAND
DER BRIGANTEN,
DIE IHN SO GRAUSAM FOLTERTEN,
DASS SEINE STERBLICHEN ÜBERRESTE
SELBST FÜR SEINE GELIEBTE FRAU ELISA
UNKENNTLICH WAREN,
WÄHREND ER ALS RUHMREICHER RETTER
DES VATERLANDES VERSUCHTE,
IN DIE TRAURIGE VORHÖLLE SÜDITALIENS
ORDNUNG ZU BRINGEN
Ein Ururgroßvater, der nicht nur im Kreise seiner Familie als Held galt, wie die Piazza bezeugt, die der Rat des nahe gelegenen Weilers nach ihm benannt hat. Gewiss hat nie jemand erfahren, wie die Dinge tatsächlich abgelaufen waren. Aber auch wenn es jemand gewusst hätte, was hätte das geändert?
Wahrscheinlich nichts, wenn sogar ein Schlächter wie Napoleon – allem zum Trotz, was Tolstoj über ihn geschrieben hat – als Verteidiger der Freiheit in die Geschichte eingegangen ist und selbst Hitler bei der Planung seiner Massaker mit einkalkuliert hat, dass die Zeit alles in Legende verwandelt. Alexander der Große, Cäsar, Dschingis Khan – gibt es jemanden, der sich noch an ihre Gemetzel erinnert? Geblieben ist nur der Ruhm, mit dem sie sich bedeckten, während sie mit ihren Armeen die Welt verwüsteten. Und so funktioniert es schon seit den ältesten und beliebtesten und bekanntesten Mythen.
Alle kennen zum Beispiel die zwölf Arbeiten des Herkules. Doch viele erinnern sich, dass er zu ihnen gezwungen wurde, um für die schlimme Schuld eines jener Verbrechen zu büßen, die so entsetzlich sind, dass wir, wenn wir in irgendeiner Nachrichtensendung davon hörten, den Urheber nur als Unmenschen verurteilen könnten. Derselbe, den das kollektive Gedächtnis als »Halbgott« überliefert hat, hatte in einem Wutanfall seine Gemahlin und seine Kinderschar umgebracht – aber kann man in einer einzigen Zeile das ganze Grauen dieser Szene heraufbeschwören? Die Kinder, die zusehen, wie der Vater Megara, ihre Mutter, tötet, und schreckensstarr abwarten, bis sie selbst an die Reihe kommen – hat er sie mit Fußtritten und Faustschlägen erledigt, oder hat er sie erdrosselt, wie er es schließlich mit dem Nemeischen Löwen tun sollte, oder enthauptet wie die Hydra? Oder war es Megara, die, am Boden zerstört, auf ihr Ende wartete, nachdem sie dem Blutbad unter ihren Kindern beigewohnt und es verzweifelt zu verhindern versucht hatte? Und wird der Sohn des Zeus seinen Kleinen den zarten Hals gebrochen oder sie gegen eine Säule geschleudert oder wie die Schlange der Hera zerdrückt oder in die Luft gehoben und erwürgt haben, wie er es mit Antäus gemacht hatte? Aber schon diese dem Mythos entnommenen Beispiele mildern das Grauen ab.
Und spricht man nicht selbst von den Briganten wie von edlen, großherzigen Robin Hoods, während doch die meisten nichts anderes waren als Kriminelle, die von Reichen und Armen, von Bürgern und Bauern gleichermaßen nahmen und mit der gleichen brutalen Unparteilichkeit frischfröhlich jeden abschlachteten, der ihnen über den Weg lief? In dieser Hinsicht waren sie äußerst demokratisch.
Und obwohl das Gedächtnis der Menschen nun einmal so ist und den Zufall schalten und walten lässt, glauben wir immer noch an die Geschichte. Aber was könnten wir auch sonst tun? Außerdem hätte Yarno, selbst wenn er im Besitz der Wahrheit gewesen wäre, Graziantonio nicht mehr hassen können, als er es ohnehin
Weitere Kostenlose Bücher