Die Beste Zum Schluss
in die Anzughose.
Sie schaut fragend drein, und ich erkläre ihr sicher zum fünften Mal, dass heute Abend der große Zehn-Jahre- ann a -Kostümball steigt. Es ist eine dieser Partys, auf der man sein muss, weil anschließend alle ein Jahr lang darüber reden. Eine riesige Kontaktbörse. Nicht nur beruflich. Man kann dort Jobs ergattern und Familien gründen. Letztes Jahr wurde eine Kollegin von der Bunten dort schwanger. Man erfuhr nie, wer der Vater war, aber die Gerüchte hielten den Flurfunk ein halbes Jahr in Schwung.
»Ich kann nicht. lol a , osca r , fertigmachen !«, ruft sie, ohne sich die Mühe zu machen, dabei in Richtung Küche zu schauen.
»Du hast es versprochen«, erinnere ich sie.
Sie versucht, schuldbewusst dreinzuschauen, was misslingt. Sie gibt den Versuch auf und verpasst mir stattdessen einen Klaps auf die Schulter.
»Wir müssen los.«
Sie geht raus. Ich schlüpfe in das Jackett und betrachte mich im Spiegel. Der Anzug passt immer noch. Mein The Sixth Sense -Anzug. Wenn ich den trage, sehe ich tote Menschen. Ich habe ihn lange nicht mehr aus dem Schrank holen müssen. Eine schöne Aussage über die letzten Jahre.
Als ich klein war, gehörte der Mai zum Frühling. Jetzt nieselt es aus einem dunklen Himmel unaufhörlich auf uns herab, und eine Windböe lässt mich frösteln. Der Friedhof ist leer, nur um ein Erdloch herum drängen sich die Menschen und kondolieren Renes Vater, der heute seine Schwester Edith verabschiedet. Es wird geschnieft, gehüstelt und leise gesprochen. Der Wind weht Satzfetzen herum, aus denen man eine universelle Trauerrede zusammensetzen könnte: Guter Mensch … so freundlich … aufgeopfert … auch in schweren Zeiten …
Renes Vater lässt eine Blume ins Grab fallen. Dann legt er seinen Kopf in den Nacken und schaut in den grauen Himmel. Ich lege meinen Arm um Renes Schultern und spüre, wie ihr Handy tonlos in ihrer Tasche vibriert. Sie macht gerade die Pressearbeit für eine t v -Castingshow, die nächste Woche in die neue Staffel geht. Gestern hat ein Reporter rausbekommen, dass der Moderator doch nicht schwul ist, und seitdem steht die Medienwelt kopf. Dass jemand seine Heterosexualität verheimlicht, ist die Hammernachricht, auf die alle gewartet haben, um diesen Tag als unvergesslich in die Annalen der Menschheit zu manifestieren. Und der Show natürlich gute Quoten zu garantieren.
Ein älteres Paar tritt ans Grab, lässt Erde auf den Sarg fallen und wechselt ein paar Worte mit Renes Vater, der regungslos dasteht wie eine knorrige Eiche. Der Wind bauscht sein weißes Hemd auf und wirbelt seine grauen Haare durcheinander. Er trägt weder Jackett noch Regenschirm. Fünfzig Jahre auf dem Bau haben ihn abgehärtet. Er ist mittlerweile siebzig, wirkt aber immer noch genauso unverwüstlich wie damals, als ich ihn zum ersten Mal sah.
Wir rücken langsam vor. Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Um achtzehn Uhr habe ich Redaktionsschluss, bis dahin muss ich einen Text abliefern, für den mir noch der Schluss fehlt. Im selben Moment wird mir klar, dass ich auf einer Beerdigung stehe und auf die Uhr schaue. Aber so ist das Leben. Es geht immer weiter. Als meine Eltern starben, habe ich das gelernt. Man denkt, die Welt müsste stehen bleiben, aber sie dreht sich weiter. Man hat weiterhin Hunger und Durst, und irgendwann ertappt man sich dabei, sich wieder über einen Sonnentag zu freuen. Zeit heilt. Eines der Weltwunder, die auf keiner Unesco-Liste stehen. Vielleicht weil es nicht immer funktioniert. Manche Dinge heilen nie wirklich, man lernt nur, so zu tun, als ob.
Wir rücken Schritt für Schritt vor und bleiben schließlich vor dem offenen Grab stehen. Rene umarmt ihren Vater, flüstert ihm etwas ins Ohr, während ich sie im Auge behalte. Ich habe sie noch nie weinen sehen, doch auf Beerdigungen kann alles Mögliche passieren. Niemand weiß das besser als ich.
Sie küsst ihn auf die Wange und löst sich. Ich trete vor und drücke seine brettharte Hand.
»Hallo, Herr Hacke. Tut mir leid um Edith.«
»Danke, Junge. Schön, dass du kommen konntest.«
Ich schaue in seine ruhigen hellen Augen. Vor fünf Jahren standen wir an einem Sommertag hier und verabschiedeten seine Frau. Da wirkte er genauso unerschütterlich.
»Passt du gut auf meine Kleine auf?«
»Ich gebe mir Mühe.«
»Gut.« Er schaut ins offene Grab, in dem jede Menge Blumen auf der Kiste liegen. »Jeder braucht jemanden, der auf ihn aufpasst.«
»Ja«, sage ich und kann plötzlich
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