Die Beste Zum Schluss
und in der Dunkelheit ganz allein mit seinen Gedanken zu sein. An Schlaf ist nicht zu denken, also mache ich noch einen Kaffee und klappe den Laptop wieder auf.
Drei Uhr nachts. Die Küche ist dunkel, bis auf das Leselicht über dem Küchentisch. Die Wohnung ist still, und ich arbeite mich durch das unendliche Geflecht des Internets. Mir war nicht klar, dass Brustkrebs in den westlichen Ländern die häufigste Krebsart bei Frauen ist. In manchen Foren wird behauptet, dass Milch ein Problem sei, weil Milch ein Hormon habe, das Zellen zum Wachsen anrege, und dieses Hormon könne nicht zwischen gesunden und kranken Zellen unterscheiden. Andere behaupten, man müsse mehr Soja essen, weil die Frauen in Japan kaum Brustkrebs bekommen. Die Nächsten meinen, die indischen Frauen würde weniger Brustkrebs bekommen, weil sie auch nach dem gebärfähigen Alter noch als Frau geschätzt würden. Fakt bleibt wohl, dass niemand genau weiß, was den Krebs verursacht, obwohl Milliarden in die Forschung gepumpt werden.
Ich stehe auf, schiebe den Küchenstuhl zurück und strecke mich. Mein Rücken knackt seine Melodie. Dann werfe ich einen Blick ins Kinderzimmer. Die drei liegen immer noch aneinandergekuschelt, als hätte man die Heizung abgestellt. Ein schöner Anblick. Ich wünschte, ich könnte ihn genießen. Stattdessen ist mir danach, sie zu wecken, damit ich sie trösten kann – was ich vielleicht mehr brauche als sie. Ich war bei Rene, als ihre Mutter starb. Sie freute sich über meine Gesellschaft, aber nicht über meine Tröstversuche. Sie freute sich über Ablenkung, aber die Trauer wickelte sie mit sich selbst ab und kam dann, nach und nach, wieder zurück. Gib mir die Kraft, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Das schrieb sie damals in das Kondolenzbuch ihrer Mutter. Den ersten Teil hat sie perfektioniert.
Zurück in der Küche nehme ich eine Aspirintablette, setze mir zur Abwechslung eine Kanne Tee auf und mache mich über die nächsten Seiten her. Betroffene berichten von den Nebenwirkungen der Chemotherapie. Bei manchen klingt es wie die Hölle, andere haben so gut wie keine. Wenn ich es richtig verstehe, beruht Chemo auf einem einzigen Prinzip. Krebszellen vermehren sich extrem schnell. Die Teilung geht bei ihnen rascher als bei normalen Körperzellen. Wenn man ein Mittel verabreicht, das den Zellteilmechanismus außer Kraft setzt, dann sterben die bösartigen Zellen ab, aber leider auch viele gesunde Zellen, dadurch entstehen die Nebenwirkungen, wie Übelkeit, Erbrechen, Entzünden der Mundschleimhaut, Haarausfall und die Veränderungen des Blutbilds.
Schließlich lande ich auf einer Informationsseite über Trauerarbeit und kindgerechte Aufarbeitung von schweren Krankheiten. Bei dem Gedanken daran zerdrückt es mir erst das Herz, dann wird mir klar, wie wichtig es ist, die Kinder nicht im Ungewissen zu lassen. Lola hat heute Abend eh schon gemerkt, dass etwas im Busch ist. Ich erinnere mich leider, wie es sich anfühlte, von Polizisten und Ärzten angelogen zu werden. Als die schon wussten, wie schwer verletzt meine Eltern waren, war ich noch ahnungslos. Und ich war damals achtzehn. Bescheid wissen hilft nicht gegen den Schmerz, aber angelogen zu werden verstärkt ihn. Wir sollten über alles reden und versuchen, normal zu bleiben. Aber wie bleibt man normal, wenn das Leben von der Normalität abweicht?
Ich gehe mit leichten Kopfschmerzen wieder auf den Balkon, um durchzuatmen. Es nieselt leicht. Ein ruhiger stetiger Frühjahrsregen. Noch zu kalt, um draußen zu sein, aber bereits voller stiller Verlockungen. Frühling. Hat meinem Leben immer gutgetan, und es gibt nicht viele zuverlässige, wohltuende Dinge in meinem Leben: Jahreszeiten, Schlaf, Essen und den Tag mit drei Menschen teilen, die mich lieben. Im selben Moment wird mir klar, was meine wirkliche Aufgabe ist. Rene hat die Krankheit, an der ihre Mutter gestorben ist. Mein Job wird es sein, sie von dem Gedanken abzubringen, dass sie dasselbe Schicksal erleidet. In einem Forum fand ich einen Satz vom Partner einer Betroffenen: Ich kann nicht die Sonne für dich scheinen lassen, aber ich werde deinen Regenschirm halten. Das ist es, was ich sein werde. Renes Schirm.
Ich bleibe stehen, bis ich fröstele, dann gehe ich wieder rein und klappe den Laptop zu. Es reicht für heute. Die Wohnung ist still und fühlt sich anders an. Fünf Uhr. Ich
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