Die Bestie von Florenz
kamen, und es gab keinen neuen Mordfall. Francesco Vinci blieb in Haft. Die Florentiner jedoch fanden keine rechte Ruhe: Francesco sah nicht so aus wie die intelligente, aristokratische Bestie, die sie sich vorgestellt hatten; er entsprach zu sehr dem Bild des billigen Ganoven, des Aufreißers mit Macho-Charme.
Ganz Florenz wartete voller Angst auf die wärmeren Sommermonate, die liebste Jahreszeit der Bestie.
Kapitel 11
Im Herbst und Winter 1982–83 schrieb Mario Spezi ein Buch über die Bestie von Florenz. Es trug den Titel Il Mostro di Firenze und erschien im Mai. Darin wurde der Fall von der Tat 1968 bis zum Doppelmord bei Montespertoli nachvollzogen. Die Öffentlichkeit verschlang das Buch voller Furcht davor, was die kommenden Monate bringen mochten. Doch als sich der Sommer mit seinen milden Nächten zwischen den grünen Hügeln um Florenz ausbreitete, geschah kein neuer Mord. Die Florentiner schöpften Hoffnung, dass die Polizei vielleicht doch den richtigen Mann erwischt hatte.
Zusätzlich zu dem Buch und weiteren Artikeln über den Fall veröffentlichte Spezi in jenem Sommer einen Artikel über oder vielmehr eine Lobeshymne auf eine junge Regisseurin namens Cinzia Torrini, die einen charmanten kleinen Dokumentarfilm über das Leben von Berto, dem letzten Fährmann auf dem Arno, gedreht hatte – ein uralter, runzliger Mann, der seine Passagiere mit Geschichten, Legenden und alten toskanischen Sprichwörtern unterhielt. Torrini freute sich über Spezis Artikel und las sein Bestien-Buch mit großem Interesse. Sie rief ihn an und erzählte ihm von ihrer Idee, einen Film über die Bestie von Florenz zu drehen, und Spezi lud sie zu sich nach Hause zum Abendessen ein. Das würde ein spätes Abendessen werden, selbst nach italienischen Maßstäben, denn Spezis Arbeitszeiten waren eben die eines Journalisten.
Und so fuhr Torrini am Abend des 10. September 1983 den steilen Hügel zu Spezis Wohnung hinauf. Wie man von einer Filmemacherin erwarten konnte, besaß Torrini eine lebhafte Vorstellungskraft. Die Bäume zu beiden Seiten der Straße, so erzählte sie später, sahen aus wie Skeletthände, die sich im Wind bewegten und wie Klauen in die Luft zu greifen schienen. Sie konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob es wirklich klug von ihr sei, in einer mondlosen Samstagnacht mitten in die Florentiner Hügel hinauszufahren, um mit jemandem über grauenhafte Verbrechen zu reden, die in mondlosen Samstagnächten in den Florentiner Hügeln verübt worden waren. Als sie um eine der zahlreichen Kurven der Landstraße fuhr, beleuchteten die Scheinwerfer ihres alten Fiat 127 etwas Weißes mitten auf der schmalen Straße. Das »Ding« breitete sich aus, richtete sich auf und wurde riesig. Es löste sich vom Asphalt und erhob sich lautlos in die Luft wie ein schmutziges Bettlaken, das vom Wind davongetragen wird – es war eine seltene Schnee-Eule. Torrini bekam ein flaues Gefühl im Magen, weil die Italiener, wie schon die Römer vor ihnen, es für ein böses Omen halten, bei Nacht einer Eule zu begegnen. Beinahe hätte sie kehrtgemacht.
Sie stellte ihren Wagen auf dem kleinen Parkplatz vor dem riesigen Eisentor der alten Villa ab, die zu einem Haus mit mehreren Wohnungen umgebaut worden war, und klingelte. Sobald Spezi die grüne Tür zu seiner Wohnung öffnete, löste sich ihr ungutes Gefühl in nichts auf. Die Wohnung war einladend, heimelig und exzentrisch – ein alter Spieltisch aus dem siebzehnten Jahrhundert mit Stuckmarmor diente als Couchtisch, an den Wänden hingen alte Fotos und Zeichnungen, und in einer Ecke des Wohnzimmers gab es einen offenen Kamin. Der Esstisch war schon draußen auf der Terrasse gedeckt, unter einer weißen Markise und mit einem Ausblick auf die glitzernden Lichter, die über die Hügel verstreut waren. Torrini lachte über die absurde Furcht, die sie auf der Fahrt hierher überkommen hatte, und vergaß sie wieder.
Sie unterhielten sich fast den ganzen Abend lang über die Möglichkeit, einen Film über den Fall der Bestie von Florenz zu drehen.
»Ich habe den Eindruck, dass das sehr schwierig wäre«, sagte Spezi. »Der Geschichte fehlt die Hauptperson – der Mörder. Ich bezweifle, dass die Polizei mit dem Mann, der jetzt im Gefängnis auf seinen Prozess wartet – Francesco Vinci –, den Richtigen erwischt hat. Wir hätten also einen Krimi ohne Auflösung.«
Das sei kein Problem, entgegnete Torrini. »Die Hauptperson ist nicht der Mörder: Im Zentrum steht die Stadt Florenz
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