Die Bestie von Florenz
Vigna würde es ihm bald gleichtun. Aus dem Fall der Bestie von Florenz ließ sich noch jede Menge herausschlagen.
Jetzt, sechs Monate später, drohte Paccianis bevorstehender Freispruch die erst heranreifenden Hypothesen und sorgsam ausgearbeiteten Pläne von Hauptkommissar Giuttari zu ruinieren. Er musste etwas unternehmen, um den Schaden durch Paccianis Freilassung zu begrenzen. Er entwickelte einen Plan.
Am Vormittag des 5. Februar 1996 brauchte Oberstaatsanwalt Piero Tony vier Stunden für seine Zusammenfassung. Die Anklage gegen Pacciani, sagte er, hatte weder Indizien noch Hinweise oder Beweise vorgelegt. Es gab nicht einmal Teile einer Waffe, die ihn mit den Morden in Verbindung brächten, es konnten gar nicht genug Patronen im Garten plaziert werden, um ihn zu überführen, und es gab keinen einzigen Zeugen, dem Tony glauben würde. Da war nichts. Für Tony war eine fundamentale Tatsache völlig außer Acht gelassen worden: Die Ermittler konnten keinerlei Erklärung dafür liefern, wie die berüchtigte 22er Beretta, die bei dem Doppelmord von 1968 benutzt worden war, in Paccianis Hände gelangt sein sollte.
»Ein halbes Indiz plus ein halbes Indiz«, donnerte Tony, »ergibt kein ganzes Indiz: Das ergibt gar nichts!«
Am 12. Februar hatten Paccianis Anwälte, ihrer Argumente beraubt, bei ihrem Schlussplädoyer nicht viel zu sagen. Am darauffolgenden Tag zogen Ferri und die beisitzenden Richter sich zur Beratung zurück.
Am selben Nachmittag schlüpfte Hauptkommissar Giuttari in seinen schwarzen Mantel, schlug den Kragen hoch, steckte sich die halbe »Toscano« zwischen die Lippen und trommelte seine Männer zusammen. Ihre Zivilfahrzeuge schossen zum Tor des Polizeipräsidiums hinaus und rasten nach San Casciano, wo die Beamten das Haus von Mario Vanni umstellten – des ehemaligen Briefträgers, der bei Paccianis erstem Prozess immer wieder vor sich hin gemurmelt hatte, er und Pacciani seien nur »Picknick-Freunde«. Giuttari und seine Männer schnappten sich Vanni und verfrachteten ihn in ein Polizeiauto, wobei sie dem armen Kerl nicht einmal genug Zeit ließen, sich die Zahnprothesen in den Mund zu schieben. Vanni, so erklärten sie, war der »andere Mann«, den Lorenzo Nesi in dem Wagen gesehen hatte. Sie warfen ihm vor, als Paccianis Komplize an den Morden beteiligt gewesen zu sein.
Das Timing war hervorragend. Am Vormittag des 13. Februar, jenem Tag, an dem die Berufungsrichter ihr Urteil verkünden sollten, posaunten die Zeitungen die Nachricht von Vannis Festnahme als Paccianis Co-Bestie heraus.
Dadurch glich der riesige, bunkerartige Gerichtssaal einem Vulkan, der nur darauf wartete, auszubrechen. Die Verhaftung Vannis war eine direkte Kampfansage an die Richter, sollten diese es wagen, Pacciani freizusprechen.
Als die Sitzung eröffnet wurde, traf ein von Hauptkommissar Giuttari entsandter Polizist mit einem Stapel Unterlagen atemlos im Gericht ein. Er verlangte, angehört zu werden. Ferri, der vorsitzende Richter, war verärgert über dieses Manöver in letzter Minute. Dennoch gestattete er dem Gesandten aus dem Polizeipräsidium kühl, seine Nachricht zu verkünden.
Der Mann trug vor, dass im Fall der Bestie vier neue Zeugen aufgetaucht seien. Er bezeichnete sie mit griechischen Buchstaben: Alpha, Beta, Gamma und Delta. Aus Sicherheitsgründen könne er ihre wahren Namen nicht öffentlich preisgeben. Ihre Zeugenaussage sei von absolut zentraler Bedeutung – weil zwei dieser Zeugen, erklärte der Gesandte dem fassungslosen Gericht, bei dem Doppelmord an den französischen Touristen 1985 persönlich anwesend gewesen seien. Sie hatten Pacciani am Schauplatz des Verbrechens dabei beobachtet, wie er die Morde begangen hatte, und einer hatte sogar gestanden, ihm dabei geholfen zu haben. Die anderen konnten seine Aussage bestätigen. Diese vier Zeugen waren nach über zehn Jahren des Schweigens plötzlich zum Sprechen bewegt worden, kaum vierundzwanzig Stunden vor dem endgültigen Urteil, das über Paccianis Schicksal entscheiden sollte.
Fassungsloses Schweigen senkte sich über den Gerichtssaal herab. Selbst die Kulis der Journalisten erstarrten auf den Seiten ihrer Notizbücher. Dies war eine ungeheuerliche Enthüllung – so etwas sah man sonst nur im Kino, aber nie im richtigen Leben.
War Ferri zuvor verärgert gewesen, so war er jetzt empört. Aber er bewahrte eisige Ruhe, und seine Stimme troff vor Sarkasmus. »Wir können Alpha und Beta nicht anhören. Wir sind hier nicht in einer
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