Die Bestie von Florenz
ins Gefängnis gebracht worden war, hatten seine Verwandten ihn in ein Waisenhaus abgeschoben, ein besonders grausames Schicksal in einem Land, in dem die Familie alles bedeutet. Er war ganz allein auf der Welt.
Wir setzten uns auf eine Bank, und die Disco-Klänge des Fahrgeschäfts wummerten im Hintergrund. Wir fragten ihn, ob er sich an irgendwelche Einzelheiten aus der Nacht des 21. August 1968 erinnern konnte, der Nacht, in der seine Mutter ermordet wurde. Die Frage regte ihn furchtbar auf.
»Ich war damals sechs Jahre alt!«, rief er mit schriller Stimme. »Was wollen Sie denn von mir hören? Wie könnte ich mich nach so langer Zeit noch an irgendetwas Neues erinnern? Alle fragen sie mich ständig: Woran erinnerst du dich? Woran erinnerst du dich? «
In der Nacht des Verbrechens, erzählte Natalino dann, war er so verängstigt, dass er kein Wort herausbrachte, bis die Carabinieri ihm damit drohten, ihn zu seiner toten Mutter zurückzubringen. Vierzehn Jahre später, als die Ermittler den Zusammenhang zwischen dem Mord von 1968 und den Verbrechen der Bestie erkannten, bestellten sie ihn erneut zur Befragung ein. Sie bearbeiteten ihn erbarmungslos. Er war Zeuge des Doppelmords von 1968, und sie schienen zu glauben, dass er ihnen wichtige Informationen vorenthielt. Die Befragungen zogen sich über ein Jahr hin. Er sagte ihnen immer wieder, dass er sich an diese Nacht nicht erinnern konnte. Die Ermittler zeigten ihm grässliche Fotos von den verstümmelten Opfern der Bestie und schrien ihn an: »Sehen Sie sich diese Menschen an. Das ist Ihre Schuld! Sie sind schuld an ihrem Tod, weil Sie sich nicht erinnern können!«
Während Natalino von diesen mitleidlosen Verhören sprach, klang seine Stimme gequält und wurde immer lauter. »Ich habe ihnen gesagt, dass ich mich an nichts erinnern kann. Nichts . Bis auf eines. An eine Sache konnte ich mich erinnern!« Er hielt inne und holte tief Luft. »Ich weiß nur noch, dass ich im Auto die Augen geöffnet und vor mir meine Mama gesehen habe, tot. Das ist das Einzige, woran ich mich aus dieser Nacht erinnern kann. Und«, setzte er mit bebender Stimme hinzu, »das ist die einzige Erinnerung, die ich an sie habe.«
Kapitel 35
Jahre zuvor hatte Spezi Antonio Vinci angerufen und versucht, ein Interview zu arrangieren. Er hatte eine kategorische Abfuhr bekommen. Angesichts dieser Zurückweisung überlegten wir nun, wie wir am besten an den Mann herantreten sollten. Wir beschlossen, nicht vorher anzurufen und ihm damit eine weitere Chance zu geben, nein zu sagen. Stattdessen würden wir einfach vor seiner Tür stehen und ihm falsche Namen nennen, um eine weitere Abfuhr zu vermeiden und weil wir nach Erscheinen des Artikels mit eventuellen Racheaktionen rechnen mussten. Ich würde einen amerikanischen Journalisten spielen, der einen Beitrag über die Bestie von Florenz schrieb, und Spezi meinen Freund, der mir als Übersetzer aushalf.
Wir kamen um zwanzig vor zehn am Abend vor Antonios Apartmenthaus an, so spät, dass wir ihn sicher zu Hause antreffen würden. Antonio wohnte in einem ordentlichen Arbeiterviertel im Westen von Florenz. Das Apartmenthaus lag an einer Seitenstraße, ein bescheidenes, weiß verputztes Gebäude mit Blumenbeeten und einem Fahrradständer davor. Am Ende der Straße, hinter einer Reihe von Schirmkiefern, ragten die Skelette aufgegebener Fabriken in die Höhe.
Mario drückte auf den Klingelknopf, und eine Frauenstimme fragte: »Wer ist da?«
»Marco Tiezzi«, antwortete er.
Wir wurden ohne weitere Nachfragen eingelassen.
Antonio erwartete uns an der Wohnungstür, nur mit Shorts bekleidet. Er starrte Mario an. »Ah, Spezi, Sie sind’s!«, sagte er, denn er hatte ihn offenbar sofort erkannt. »Ich habe den Namen nicht richtig verstanden. Ich wollte schon lange mit Ihnen sprechen!«
Er bat uns, am Küchentisch Platz zu nehmen, ganz der leutselige Gastgeber, und bot uns einen besonderen sardischen Likör namens mirto an. Seine Partnerin, eine schweigsame und praktisch unsichtbare ältere Frau, wusch den Spinat in der Spüle fertig und verließ die Küche.
Antonio war ein gutaussehender Mann, der Grübchen hatte, wenn er lächelte. Sein lockiges schwarzes Haar war mit Grau durchsetzt, sein Körper gebräunt und muskelbepackt. Er strahlte eine dreiste Selbstsicherheit und den Charme des einfachen Mannes aus. Während wir uns über den Fall unterhielten, ließ er beiläufig die Muskeln an seinen Oberarmen spielen oder strich mit einer scheinbar
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