Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Wenn du dein Temperament zügeln könntest«, schneidet Jeanine ihm barsch das Wort ab, » wärst du jetzt vielleicht gar nicht in dieser misslichen Lage, Tobias.«
» Dass ich in dieser Lage bin, ist deine Schuld«, blafft er sie an. » Und zwar von dem Augenblick an, als du diesen Angriff auf unschuldige Menschen organisiert hast.«
» Unschuldige Menschen?«, lacht Jeanine. » Schon komisch, das ausgerechnet aus deinem Mund zu hören. Von Marcus’ Sohn hätte ich erwartet, dass er weiß, wie wenig unschuldig einige dieser Leute sind.« Sie setzt sich auf die Schreibtischkante, der Saum ihres Kleids ist über die Knie gerutscht und man sieht die Dehnungsstreifen der Haut. » Sag ehrlich, wärst du nicht auch froh, wenn du erfahren würdest, dass dein Vater bei dem Angriff umgekommen ist?«
» Nein, wäre ich nicht«, antwortet Tobias zähneknirschend. » Zumindest ist er nicht so abgrundtief böse, dass er eine gesamte Fraktion manipuliert und sämtliche politischen Führer systematisch umzubringen versucht.«
Jeanine starrt ihn sekundenlang an, lange genug, dass meine Nerven bis zum Zerreißen gespannt sind, dann räuspert sie sich.
» Was ich sagen wollte… Bald werden Dutzende von Altruan mit ihren Kindern unter meiner Verantwortung stehen. Da ist es nicht gut, wenn eine große Zahl von ihnen womöglich Unbestimmte sind, die man mit den Simulationen nicht kontrollieren kann.«
Sie steht auf und geht ein paar Schritte nach links, die Hände locker gefaltet. Ihre Fingernägel sehen aus wie meine, das Nagelbett ist wund gebissen.
» Deshalb musste ich eine neue Art von Simulation entwickeln, der gegenüber sie nicht immun sind. Ich musste meine eigenen Annahmen neu überdenken. Und da kommt ihr ins Spiel.« Sie geht ein paar Schritte nach rechts. » Es stimmt, ihr seid willensstark. Ich kann euren Willen nicht kontrollieren. Aber es gibt ein paar andere Dinge, die ich sehr wohl kontrollieren kann.«
Sie bleibt stehen und mustert uns. Ich lehne meinen Kopf an Tobias’ Schulter. Blut rinnt über meinen Rücken. Der Schmerz ist so hartnäckig, dass ich mich fast schon an ihn gewöhnt habe, so wie man sich an andauerndes Sirenengeheul gewöhnt.
Sie legt die Hände zusammen. In ihren Augen erkenne ich kein böswilliges Leuchten und auch keine Spur von Sadismus, wie ich es eigentlich erwartet hätte. Sie ist nicht besessen, sondern sie agiert eher wie eine Maschine. Sie erkennt Probleme und leitet aus den Daten, die sie sammelt, eine Lösung ab. Die Altruan standen ihrem Machtstreben im Weg, also hat sie eine Möglichkeit gefunden, sie auszulöschen. Ihr stand keine Armee zur Verfügung, also hat sie sich eine Armee bei den Ferox gesucht. Sie wusste, sie würde große Menschenmengen kontrollieren müssen, also hat sie dafür das Serum und die Transmitter entwickelt.
Die Unbestimmten sind nur ein weiteres Problem, das sie lösen muss. Und genau das macht sie so verdammt gefährlich– sie ist so schlau, dass sie alles lösen kann, sogar das Problem unserer Existenz.
» Ich kann kontrollieren, was ihr seht und hört«, sagt sie. » Deshalb habe ich ein neues Serum entwickelt, das die Wahrnehmung eurer Umgebung verändert, sodass ich euren Willen lenken kann. Diejenigen, die uns nicht als Führer anerkennen, müssen überwacht und kontrolliert werden.«
Überwacht– oder des freien Willens beraubt. Sie versteht es, mit Worten umzugehen.
» Du wirst mein erstes Versuchskaninchen sein, Tobias. Was dich angeht, Beatrice…« Sie lächelt. » Du bist zu schwer verletzt, um mir von Nutzen zu sein, deshalb ist deine Exekution am Ende dieses Treffens unvermeidlich.«
Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, dass mir bei dem Wort » Exekution« ein Schauer über den Rücken läuft. Meine Schulter brennt höllisch, und es fällt mir schwer, die Tränen zurückzuhalten, als ich das Entsetzen in Tobias’ großen dunklen Augen sehe.
» Nein«, sagt Tobias mit zittriger Stimme. Aber sein Blick ist unerbittlich. » Lieber sterbe ich.«
» Ich fürchte, du hast in dieser Angelegenheit keine große Wahl«, erwidert Jeanine leichthin.
Tobias nimmt mein Gesicht ungeschickt in seine Hände und küsst mich. Seine Lippen drängen sich zwischen meine. Für einen Augenblick vergesse ich den Schmerz und die Angst vor dem nahen Tod, und ich bin einfach nur dankbar, dass die Erinnerung an diesen Kuss noch in mir lebendig sein wird, wenn ich sterbe.
Dann lässt er mich los und ich muss mich Halt suchend an die Wand lehnen.
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