Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
quietschend langsamer wird. Ich weiß nicht, wie lange ich so dagestanden habe, aber mein Rücken tut weh, also muss es lange gewesen sein. Mit kreischenden Bremsen kommt der Zug zum Stehen. Mein Herz klopft so stark, dass ich fast keine Luft mehr bekomme.
Kurz bevor wir aus dem Wagen springen, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Tobias den Kopf wendet. Ich schaue ihn an. Seine dunklen Augen sind auf mich gerichtet und er sagt: » Lauf.«
» Meine Familie«, flüstere ich.
Ich blicke wieder geradeaus, und als ich an der Reihe bin, springe ich hinunter. Jetzt ist nicht mehr das Mädchen, sondern Tobias vor mir. Ich sollte einfach hinter ihm hergehen, aber ich kenne die Straßen, durch die wir jetzt marschieren, und ich achte kaum noch auf die Kolonne. Ich komme an dem Laden vorbei, in dem ich zweimal im Jahr mit meiner Mutter neue Kleider für unsere Familie abgeholt habe; an der Bushaltestelle, an der ich einst allmorgendlich auf den Schulbus gewartet habe; an Gehwegen, die solche Löcher haben, dass Caleb und ich ein Spiel daraus gemacht haben, hinüberzuspringen.
Alles sieht verändert aus. Die Häuser sind düster und leer, die Straßen voll von Soldaten der Ferox, die alle im Gleichschritt marschieren. Alle mit Ausnahme der Bewacher, die in gleichmäßigen Abständen am Straßenrand stehen und uns passieren lassen oder in kleinen Grüppchen beieinanderstehen und etwas besprechen. Keiner scheint etwas zu tun. Sind wir wirklich hierhergekommen, um einen Krieg zu führen?
Ich marschiere noch etwa eine halbe Meile, ehe ich eine Antwort auf diese Frage erhalte.
Ich höre Geknalle, aber ich darf mich nicht umdrehen, um zu sehen, woher es kommt. Je weiter ich gehe, desto lauter und schärfer hört es sich an, und ich begreife, dass es Schüsse sind. Ich beiße die Zähne zusammen. Ich muss weitergehen, ich darf keine Miene verziehen.
In einiger Entfernung sehe ich, wie eine Soldatin der Ferox einen grau gekleideten Mann auf die Knie zwingt. Ich kenne den Mann: Er ist Mitglied des Rats. Die Soldatin nimmt ihre Waffe aus dem Halfter– und mit blicklosen Augen schießt sie dem Ratsmitglied eine Kugel in den Hinterkopf.
Die Soldatin hat graue Strähnen im Haar. Es ist Tori. Meine Knie geben nach.
Geh weiter. Meine Augen brennen. Geh weiter.
Wir marschieren vorbei an Tori und dem gefallenen Ratsmitglied. Als ich über seine Hand hinwegsteige, kann ich die Tränen kaum zurückhalten.
Die Soldaten vor mir bleiben stehen, also bleibe ich ebenfalls stehen. Ich bewege mich nicht, dabei will ich nur eines: Ich will Jeanine und Eric und Max aufspüren und sie alle erschießen. Meine Hände zittern und ich kann nichts dagegen tun. Ich atme heftig durch die Nase.
Wieder fällt ein Schuss. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie links von mir ein grauer Schatten auf dem Gehweg zusammenbricht. Wenn das so weitergeht, werden alle Altruan sterben.
Die Soldaten der Ferox führen, ohne zu zögern, unausgesprochene Befehle aus. Erwachsene Altruan werden in die umliegenden Häuser getrieben, zusammen mit ihren Kindern. Eine unübersehbare Schar schwarz gekleideter Soldaten bewacht die Türen. Die Einzigen, die ich nicht sehe, sind die Anführer der Altruan. Vielleicht sind sie längst tot.
Die Soldaten vor mir gehen einer nach dem anderen weg, um die ihnen zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen. Irgendwann werden die Anführer merken, dass ihre Befehle bei mir nicht ankommen. Was soll ich dann tun?
» Das ist ja verrückt«, schnarrt eine männliche Stimme rechts von mir. Ich erhasche einen Blick auf lange, fettige Haare und einen silbernen Ohrring. Eric. Er stößt mir seinen Zeigefinger ins Gesicht, und ich muss mich anstrengen, um seine Hand nicht wegzuschlagen.
» Können sie uns wirklich nicht sehen oder hören?«, fragt eine Frau.
» Oh doch, das können sie sehr wohl. Aber sie reagieren nicht auf das, was sie sehen und hören«, sagt Eric. » Sie erhalten ihre Befehle von unseren Computern über die Transmitter, die wir ihnen injiziert haben.« Er legt den Finger auf die Einstichstelle an meinem Hals, um der Frau zu zeigen, wo sie ist. Bleib ruhig, sage ich beschwörend zu mir selbst. Ruhig, ruhig, ruhig. » Und sobald sie die Befehle erhalten haben, führen sie sie anstandslos aus.«
Eric geht einen Schritt weiter und baut sich vor Tobias auf.
» Wen haben wir denn da?«, sagt er grinsend. » Der berühmte Four. Bald wird sich niemand mehr daran erinnern, dass ich nur Zweiter war. Niemand wird mehr fragen: Wie war es denn,
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