Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Fliesen aus, als wir den Gang so schnell entlanggehen, wie ich es auf meinen wackligen Beinen kann. Sobald wir um die Ecke biegen, schießt meine Mutter auf zwei Soldaten, die am Ende des Korridors eine Tür bewachen. Die Kugeln treffen sie in den Kopf und sie sacken auf dem Fußboden zusammen. Meine Mutter drückt mich gegen die Wand und zieht ihre graue Jacke aus. Darunter trägt sie ein ärmelloses Oberteil. Unter ihrer Achsel sehe ich die Konturen eines Tattoos. Kein Wunder, dass sie sich nie in meiner Gegenwart umgezogen hat.
» Mom«, stoße ich hervor. » Du warst eine Ferox.«
» Ja«, erwidert sie lächelnd. Aus ihrer Jacke macht sie eine Schlinge und legt sie mir um den Hals, damit ich meinen Arm hineinstecken kann. » Und heute ist mir das zustattengekommen. Dein Vater, Caleb und ein paar andere verstecken sich in einem Keller, da, wo die Nordstadt an Fairfield grenzt. Wir müssen zu ihnen.«
Es ist also wahr. Fassungslos starre ich sie an. Zweimal am Tag habe ich neben ihr am Küchentisch gesessen, sechzehn Jahre lang, und bis zum Besuchstag hätte ich es nie für möglich gehalten, dass sie nicht schon immer zu den Altruan gehörte. Wie gut habe ich meine Mutter eigentlich gekannt?
» Jetzt ist keine Zeit für Fragen, das hat später Zeit«, sagt sie. Sie hebt ihr Oberteil an, holt eine Waffe unter ihrem Hosenbund hervor und gibt sie mir. Dann streichelt sie mir über die Wange. » Wir müssen los.«
Sie rennt zum Ende des Gangs und ich laufe hinterher.
Wir befinden uns im Keller des Hauptquartiers der Altruan. Seit ich mich erinnern kann, hat meine Mutter hier gearbeitet, deshalb überrascht es mich nicht, dass sie mich durch dunkle Gänge führt, eine feuchtkalte Treppe hinauf und dann ohne jeden Umweg ans Tageslicht. Wie viele Wachen hat sie wohl erschossen, ehe sie mich aufgespürt hat?
» Woher wusstest du, wo du mich findest?«, frage ich sie.
» Ich habe die Züge beobachtet, seitdem die Angriffe begonnen haben«, sagt sie und blickt mich über die Schulter hinweg an. » Ich wusste selbst nicht, was ich tun würde, wenn ich dich gefunden habe. Es ging mir nur darum, dich zu retten.«
Meine Kehle ist wie zugeschnürt. » Aber ich habe dich doch verraten. Ich habe dich verlassen.«
» Du bist meine Tochter. Die Fraktionen sind mir egal.« Sie schüttelt den Kopf. » Schau, wohin sie uns geführt haben. Die Menschen können nicht auf Dauer gut sein, über kurz oder lang befällt uns wieder das Böse und vergiftet unsere Herzen.«
Dort, wo der schmale Weg auf die Straße trifft, bleibt sie stehen.
Ich weiß, es ist jetzt nicht die Zeit für eine Unterhaltung. Aber etwas muss ich wissen.
» Mom, woher weißt du, was Unbestimmte sind?«, frage ich. » Was ist bei ihnen anders? Warum…«
Sie öffnet die Patronenkammer und überprüft, wie viele Kugeln sie noch hat. Dann holt sie mehrere Patronen aus ihrer Tasche und lädt nach. Sie hat den gleichen konzentrierten Gesichtsausdruck, wie wenn sie einen Faden in die Nadel fädelt.
» Ich weiß es, weil ich selbst eine bin«, sagt sie und schiebt eine Patrone in die Kammer. » Mir ist nur deshalb nichts zugestoßen, weil meine Mutter eine der Anführer der Ferox war. Am Tag der Bestimmung riet sie mir, die Fraktion zu verlassen und mir eine zu suchen, bei der ich sicher wäre. Ich entschied mich für die Altruan.« Sie steckt eine Reservepatrone in die Tasche und richtet sich auf. » Aber ich wollte, dass du deine Wahl aus freien Stücken triffst.«
» Ich verstehe nicht, weshalb wir für die Anführer so gefährlich sind.«
» Jede Fraktion will, dass ihre Mitglieder in einer ganz bestimmten Art und Weise denken und handeln. Und die meisten tun das auch. Den meisten Menschen fällt es nicht schwer, ein bestimmtes Denkmuster anzunehmen und immer danach zu handeln.« Sie berührt mich an meiner gesunden Schulter und lächelt. » Aber unsere Gedanken schweifen in viele verschiedene Richtungen. Man kann uns nicht zwingen, nur in eine Richtung zu denken, und das ängstigt unsere Anführer. Das heißt nämlich, dass man uns nicht kontrollieren kann. Und das heißt, egal was sie tun, wir werden ihnen immer Schwierigkeiten bereiten.«
Ich fühle mich, als hätte man mir neue Luft in die Lungen geblasen. Ich bin keine Altruan und keine Ferox.
Ich bin unbestimmt.
Und niemand kann mich steuern.
» Da kommen sie«, murmelt meine Mutter und späht um die Ecke. Ich blicke ihr über die Schulter und sehe mehrere Ferox mit Maschinenpistolen, die sich
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