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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Roth
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Ich gebe auf.«
    Molly lächelt triumphierend und ich seufze erleichtert auf. Auch Al seufzt; ich spüre, wie sich seine Brust hebt und senkt.
    Eric geht langsam in die Mitte der Kampfarena. Er baut sich mit verschränkten Armen vor Christina auf und sagt leise: » Hab ich richtig gehört? Du gibst auf?«
    Christina kniet sich hin. Als sie ihre Hand vom Boden hebt, bleibt ein roter Abdruck zurück. Sie hält sich die Nase zu, um die Blutung zu stoppen, und nickt.
    » Steh auf«, sagt er. Wenn er sie laut angeschrien hätte, dann hätte ich jetzt vielleicht nicht das schreckliche Gefühl, dass mir jeden Moment mein Mageninhalt hochkommt. Wenn er sie angeschrien hätte, dann wüsste ich, dass er nichts Schlimmes vorhat. Aber seine Stimme ist leise und seine Befehle sind knapp. Er packt Christina am Arm, zieht sie auf die Füße und schleppt sie zur Tür hinaus.
    » Folgt mir«, fordert er uns auf.
    Und das tun wir.
    Ich spüre das vibrierende Tosen des Flusses in meiner Brust.
    Wir stehen dicht am Geländer. Die Grube ist beinahe menschenleer, es ist mitten am Nachmittag, doch es kommt mir vor, als sei es schon tagelang Nacht.
    Aber selbst wenn jemand hier wäre, ich bezweifle, dass er Christina helfen würde. Zum einen sind wir mit Eric zusammen, und zum anderen gelten bei den Ferox andere Gesetze– und die besagen, dass Brutalität erlaubt ist.
    Eric stößt Christina gegen das Geländer.
    » Drüberklettern«, sagt er knapp.
    » Wie bitte?« Sie sagt es, als hoffe sie noch auf sein Einlenken, aber ihre weit aufgerissenen Augen und ihr aschfahles Gesicht sprechen eine andere Sprache. Eric wird nicht nachgeben.
    » Klettere übers Geländer«, wiederholt Eric, indem er jedes Wort betont. » Wenn du es schaffst, fünf Minuten lang über dem Abgrund zu hängen, werde ich deine Feigheit vergessen. Wenn nicht, darfst du deine Ausbildung bei den Ferox nicht fortsetzen.«
    Das Geländer ist schmal und aus Eisen. Es ist nass von der Gischt, rutschig und kalt. Selbst wenn Christina den Mut aufbringt, sich an das Geländer zu hängen, wer weiß, ob sie sich so lange festhalten kann. Sie hat die Wahl: Entweder sie lebt fortan als Fraktionslose oder sie setzt ihr Leben aufs Spiel.
    Als ich die Augen schließe, sehe ich sie vor mir, wie sie in die Tiefe fällt und auf die zerklüfteten Felsen prallt, und bei der Vorstellung wird mir ganz schlecht.
    » Also gut«, sagt sie mit bebender Stimme.
    Sie ist so groß, dass sie ihr Bein übers Geländer schwingen kann. Ihr Fuß zittert. Sie steht mit den Zehenspitzen auf einem schmalen Vorsprung, während sie auch das andere Bein übers Geländer schwingt. Sie wischt sich die Hände an der Hose trocken und hält sich mit dem Gesicht zu uns am Geländer fest, so fest, dass ihre Knöchel weiß werden. Dann nimmt sie erst den einen Fuß vom Vorsprung, danach den anderen. Zwischen den Gitterstäben sehe ich ihr Gesicht, ihren entschlossenen Blick, die zusammengepressten Lippen. Al steht neben mir und stoppt die Zeit.
    Die ersten eineinhalb Minuten geht es gut. Christinas Hände umklammern das Geländer und ihre Arme zittern nicht. Langsam wage ich zu hoffen, dass sie es schafft und Eric zeigt, wie dumm er war, an ihr zu zweifeln.
    Aber dann klatscht der Fluss an die Felswände und ein Sprühnebel ergießt sich über Christina. Sie stößt mit dem Gesicht ans Geländer und schreit laut auf. Ihre Hände rutschen ab, sie hält sich jetzt nur noch mit den Fingerspitzen fest. Sie versucht, einen besseren Halt zu finden, aber jetzt sind ihre Hände nass.
    Wenn ich ihr helfe, wird Eric mit mir das Gleiche machen wie mit ihr. Soll ich sie in den sicheren Tod stürzen lassen oder soll ich ein Leben als Fraktionslose auf mich nehmen? Was ist schlimmer: zuzusehen, wie jemand stirbt, oder mutterseelenallein und mit leeren Händen auf der Straße zu stehen?
    Meine Eltern würden diese Frage ohne zu zögern beantworten.
    Aber ich bin nicht wie meine Eltern.
    Ich kann mich nicht erinnern, dass Christina geweint hat, seit wir hier angekommen sind, aber jetzt verzieht sie ihr Gesicht und ihr Schluchzen ist lauter als das Brausen des Flusses. Wieder klatscht eine Welle gegen den Fels und die Gischt durchnässt sie. Die Wassertropfen spritzen auch in mein Gesicht. Ihre Hände rutschen– und diesmal gleitet eine ab. Jetzt klammert sie sich nur noch mit vier Fingern fest.
    » Du schaffst es, Christina«, sagt Al und seine tiefe Stimme ist ungewohnt laut. Sie blickt zu ihm hoch. Er klatscht in die Hände. »

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