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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Roth
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Komm schon, halt dich wieder am Geländer fest. Du schaffst es. Halt dich fest.«
    Hätte ich überhaupt die nötige Kraft, sie festzuhalten? Ist es nicht sinnlos, einzugreifen, wenn man ohnehin zu schwach ist?
    Ich weiß, was diese Fragen in Wahrheit sind: Ausreden. Der Verstand des Menschen kann jedes Unrecht entschuldigen, deshalb ist es so wichtig, dass wir uns nicht auf ihn verlassen. Das hat mein Vater immer gesagt.
    Christina rudert mit dem Arm, tastet nach dem Geländer. Keiner feuert sie an, nur Al legt seine großen Hände vor den Mund, ruft ihr etwas zu und blickt ihr dabei ganz fest in die Augen. Ich wünschte, ich könnte mich bewegen, aber ich stehe wie festgewurzelt da und wundere mich, seit wann ich so entsetzlich selbstsüchtig bin.
    Ich schaue auf Als Uhr. Vier Minuten sind vorüber. Er versetzt mir einen Stoß an die Schulter.
    » Du schaffst es«, sage ich. Meine Stimme ist nur ein Flüstern. Ich räuspere mich. » Nur noch eine Minute«, sage ich, diesmal etwas lauter. Christina bekommt das Geländer mit der anderen Hand wieder zu fassen. Ihre Arme zittern so stark, dass ich mich frage, ob unter mir die Erde bebt und meine Wahrnehmung trübt.
    » Du schaffst es, Christina«, sagen Al und ich, und als wir es gemeinsam sagen, glaube ich, dass ich vielleicht doch stark genug bin, um ihr zu helfen.
    Ich werde ihr helfen. Wenn sie wieder abrutscht, dann werde ich ihr helfen.
    Wieder spritzt Wasser auf Christinas Rücken. Sie kreischt auf, als sie mit beiden Händen vom Geländer abrutscht. Ein gepresster Schrei kommt aus meinem Mund; er hört sich seltsam an, fast so, als hätte ein anderer geschrien.
    Aber Christina fällt nicht, sie bekommt die Gitterstäbe des Geländers wieder zu fassen. Ihre Finger rutschen am Metall nach unten, so weit, dass ich ihren Kopf nicht mehr sehe, nur noch ihre Finger.
    Die Uhr zeigt an, dass genau fünf Minuten vorüber sind.
    » Die Zeit ist um.« Al spuckt Eric die Worte fast ins Gesicht.
    Eric blickt auf seine eigene Uhr. Er lässt sich Zeit, hält die Uhr gegen das Licht, während sich mein Magen umstülpt und ich fast keine Luft mehr kriege. Ich blinzle ein paarmal, denn im Geiste sehe ich wieder Ritas Schwester auf dem Gehsteig unter den Eisenbahngleisen liegen, mit seltsam verdrehten Gliedern; ich sehe Rita, die schreit und schluchzt; ich sehe mich, wie ich mich abwende.
    » Schön«, sagt Eric. » Du kannst raufkommen, Christina.«
    Al geht zur Reling.
    » Nein«, sagt Eric. » Das muss sie alleine schaffen.«
    » Nein, muss sie nicht«, knurrt Al. » Sie hat getan, was du verlangt hast. Sie ist kein Feigling. Sie hat getan, was du wolltest.«
    Eric antwortet nicht. Al beugt sich übers Geländer; er ist so groß, dass er Christinas Handgelenk zu fassen bekommt. Sie hält sich an seinem Unterarm fest. Al zieht sie hoch, sein Gesicht ist rot vor Wut. Ich laufe hin, um ihm zu helfen. Wie befürchtet bin ich zu klein, um viel zu tun, doch ich fasse Christina unter der Schulter, sobald Al sie hoch genug gezogen hat, und gemeinsam hieven wir sie übers Geländer. Sie sackt auf den Boden, ihr Gesicht ist noch vom Kampf blutverschmiert und ihr Rücken klatschnass. Sie zittert am ganzen Leib.
    Ich knie mich neben sie. Sie hebt den Kopf, sieht erst mich an, dann Al, und wir alle atmen auf.

10 . Kapitel
    In dieser Nacht träume ich, dass Christina wieder am Geländer hängt, diesmal an den Zehen, und jemand ruft, dass nur eine Unbestimmte ihr helfen kann. Ich laufe also hin, um sie hochzuziehen, aber jemand stößt mich über die Brüstung. Kurz bevor ich an den Felsen zerschelle, wache ich auf.
    Schweißdurchnässt und noch ganz zittrig gehe ich in den Mädchenwaschraum, um zu duschen und mich umzuziehen. Als ich zurückkomme, ist das Wort Stiff mit roter Farbe quer über mein Bett gesprüht. Auch am Bettpfosten und auf meinem Kopfkissen steht das Wort, nur kleiner. Ich schaue mich um, mein Herz rast vor Wut.
    Hinter mir steht Peter, er pfeift vergnügt, während er sein Bett aufschüttelt. Ich bin selbst überrascht, dass ich jemanden so abgrundtief hassen kann, der auf den ersten Blick so nett zu sein scheint, der von Natur aus so freundlich geschwungene Augenbrauen hat und ein so breites helles Lächeln.
    » Hübsche Dekoration«, sagt er.
    » Habe ich dir irgendwas getan?«, blaffe ich ihn an. Ich packe den Zipfel des Bettlakens und ziehe es von der Matratze. » Ich weiß nicht, ob es dir schon aufgefallen ist, aber wir sind jetzt in derselben Fraktion.«
    » Keine

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