Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Fragen beantworten, das weiß ich genau. Wenn sie jetzt nicht antworten will, dann werde ich eben einen Weg finden müssen, dass sie es ein andermal tut.
» Möchtest du dir ein Tattoo machen lassen?«, fragt sie.
Die Vogelzeichnung zieht mich wieder in ihren Bann. Ich hatte überhaupt nicht vor, mich piercen oder tätowieren zu lassen. Ich weiß genau, wenn ich das tue, treibe ich nur einen weiteren Keil zwischen mich und meine Familie. Falls mein Leben hier allerdings so weitergeht, wie es angefangen hat, dann ist ein Tattoo vermutlich das kleinste Hindernis zwischen mir und meiner Familie. Immerhin verstehe ich nun, was Tori gemeint hat, als sie sagte, das Tattoo symbolisiere die Angst, die sie überwunden hat, und dass es sie daran erinnere, woher sie kam und wo sie jetzt ist. Vielleicht kann ich mein früheres Leben ehren, indem ich zu meinem neuen Leben stehe.
» Ja«, sage ich, » drei fliegende Vögel.«
Ich deute auf mein Schlüsselbein und zeige den Weg, den sie fliegen sollen– hin zu meinem Herzen. Ein Vogel für jeden aus meiner Familie, den ich zurückgelassen habe.
9 . Kapitel
» Da eure Zahl ungerade ist, wird einer von euch heute nicht kämpfen«, verkündet Four und tritt einen Schritt von der Tafel zurück. Er sieht mich an. Neben meinem Namen steht nichts.
Der Knoten in meinem Magen löst sich. Ich habe eine Gnadenfrist.
» Oh nein«, stöhnt Christina und stößt mich mit dem Ellbogen an. Sie trifft einen von meinen vielen schmerzenden Muskeln– ich habe heute Morgen mehr Muskeln, die wehtun, als solche, die es nicht tun.
» Aua!«
» Tut mir leid«, entschuldigt sie sich. » Aber schau doch nur, ich muss gegen den Panzer kämpfen.«
Christina und ich haben heute zusammen am Frühstückstisch gesessen, und davor hat sie mich vor dem Rest des Schlafsaals abgeschirmt, damit ich mich in Ruhe anziehen konnte. Ich hatte noch nie zuvor eine Freundin wie sie. Susan war enger mit Caleb befreundet als mit mir und Robert ist seiner Schwester stets auf Schritt und Tritt gefolgt.
Im Grunde hatte ich überhaupt noch nie eine wahre Freundin. Vielleicht ist wahre Freundschaft nicht wirklich möglich, wenn man unter Menschen lebt, die von niemandem Hilfe annehmen und die es stets vermeiden, von sich selbst zu sprechen. Aber hier ist alles anders. Ich weiß schon jetzt mehr von Christina, als ich je von Susan wusste, und das, obwohl ich sie erst seit zwei Tagen kenne.
» Gegen den Panzer?« Mein Blick schweift zu Christinas Namen an der Tafel. Daneben steht: Molly.
» Ja, Peters Anhängsel. Molly, die weibliche Ausgabe von Peter«, sagt sie und deutet mit dem Kinn auf eine Gruppe von Leuten auf der anderen Seite des Raums. Molly ist so groß wie Christina, aber damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Sie hat breite Schultern, einen bronzenen Hautton und eine Knollennase.
» Die drei«, Christina zeigt nacheinander auf Peter, Drew und Molly, » sind seit ihrer Geburt so gut wie unzertrennlich. Ich mochte sie noch nie.«
Will und Al stehen sich in der Arena gegenüber. Sie halten die Fäuste vors Gesicht, wie Four es uns beigebracht hat, und tänzeln umeinander herum. Al ist einen halben Kopf größer als Will und zweimal so breit. Als ich ihn anschaue, fällt mir auf, dass sogar seine Gesichtszüge groß sind– seine Nase ist groß, seine Lippen sind groß, seine Augen sind groß. Dieser Kampf wird nicht lange dauern.
Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Peter und seine Freunde. Drew ist kleiner als Peter und Molly, aber er hat eine Statur wie ein Felsquader und seine Schultern sind immer hochgezogen. Er hat rotblonde Haare, die Farbe erinnert an eine verschrumpelte Karotte.
» Was ist mit ihnen?«, frage ich.
» Peter ist durch und durch böse. Als wir noch klein waren, hat er ständig Streit mit den Kindern anderer Fraktionen vom Zaun gebrochen. Und wenn dann Erwachsene kamen und den Streit schlichten wollten, fing er an zu weinen und behauptete, die anderen Kinder hätten angefangen. Natürlich glaubte man ihm, denn wir waren ja Candor und konnten daher nicht lügen. Haha.« Angewidert rümpft Christina die Nase und fügt dann hinzu: » Drew ist vom gleichen Kaliber. Ich bezweifle allerdings, dass er auch nur einen einzigen eigenen Gedanken im Kopf hat. Und Molly… sie ist jemand, der ein Brennglas über Ameisen hält, nur um sie zappeln zu sehen.«
Auf dem Kampfplatz landet Al einen so harten Treffer gegen Wills Kinn, dass ich unwillkürlich zusammenzucke. Auf der anderen
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