Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
sein.«
» Gut«, sage ich. » Danke.«
» Und gib nicht so viel auf das, was Christina sagt. So schlimm sieht dein Gesicht gar nicht aus.« Er lächelt. » Ich wollte sagen, es sieht gut aus. Es sieht immer gut aus. Ich meine… du siehst tapfer aus. Furchtlos.«
Er wirft mir von der Seite einen Blick zu und kratzt sich verlegen am Hinterkopf. Die Stille zwischen uns breitet sich aus. Es war nett, was er gesagt hat, aber er benimmt sich so, als habe er viel mehr damit gemeint. Ich kann nur hoffen, dass ich mich irre. Ich fühle mich nicht zu Al hingezogen. Ich fühle mich nicht zu jemandem hingezogen, der so weich ist wie er.
Ich lächle, soweit es meine geschundenen Wangen eben zulassen, und hoffe, damit die angespannte Atmosphäre zu lockern.
» Du musst dich ausruhen.« Al steht auf, um zu gehen, aber ich halte ihn am Handgelenk fest.
» Al, ist alles in Ordnung mit dir?« Er blickt mich ausdruckslos an, deshalb frage ich: » Fällt es dir schon etwas leichter?«
» Hm…«, brummelt er und zuckt mit den Achseln. » Ja, ein bisschen.«
Er zieht die Hand weg und steckt sie in die Hosentasche. Die Frage ist ihm anscheinend peinlich, denn er wird knallrot. Wenn ich meine Nächte damit verbrächte, ins Kissen zu heulen, wäre ich auch verlegen. Zumindest weiß ich, wie man so weint, dass keiner es merkt.
» Ich habe gegen Drew verloren. Nach deinem Kampf mit Peter.« Er sieht mich an. » Nur ein paar Schläge, dann bin ich hingefallen und liegen geblieben. In Wahrheit hätte ich noch weitermachen können. Ich schätze… ich schätze, da ich Will besiegt habe, komme ich nicht auf den letzten Platz, selbst wenn ich alle übrigen Kämpfe verliere. Aber auf diese Weise muss ich wenigstens niemandem mehr wehtun.«
» Ist es wirklich das, was du willst?«
Er lässt den Kopf hängen. » Ich bring’s einfach nicht über mich. Vielleicht bedeutet das, dass ich ein Feigling bin.«
» Man ist kein Feigling, nur weil man anderen Leuten nicht wehtun will«, antworte ich, denn ich weiß schließlich, was man in so einer Situation sagt– auch wenn ich nicht weiß, ob ich es auch wirklich so meine.
Einen Augenblick lang schauen wir uns schweigend an.
Vielleicht meine ich es aber doch. Wenn er ein Feigling ist, dann nicht, weil er anderen keine Schmerzen zufügen mag. Sondern weil er nicht handeln will.
Er wirft mir einen gequälten Blick zu. » Glaubst du, unsere Familien werden uns besuchen? Es heißt, die Familien aus anderen Fraktionen kommen meistens nicht zu den Besuchstagen.«
» Keine Ahnung«, erwidere ich. » Ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht wäre, wenn sie kommen.«
» Ich denke, es wäre schlecht.« Er nickt. » Ja, es ist auch so schon schwer genug.« Er nickt noch einmal zur Bekräftigung. Dann geht er.
In knapp einer Woche werden die Altruan-Initianten zum ersten Mal seit der Zeremonie der Bestimmung ihre Familien wiedersehen. Sie werden nach Hause gehen, im heimischen Wohnzimmer sitzen und erstmals wie Erwachsene mit ihren Eltern reden.
Früher habe ich mich auf diesen Tag gefreut. Ich habe mir überlegt, was ich zu meiner Mutter und zu meinem Vater sagen würde, wenn ich ihnen beim Mittagstisch Fragen stellen dürfte.
In knapp einer Woche werden die Anfänger aus der Ferox-Fraktion ihre Familien in der Grube treffen oder oben in dem Glasgebäude, und sie werden all das tun, was Ferox eben so tun, wenn sie sich wiedersehen. Vielleicht bewerfen sie sich gegenseitig mit Messern– wundern würde es mich nicht.
Und jene Neulinge, denen die Eltern verzeihen, dass sie die Fraktion gewechselt haben, werden ihre Familie ebenfalls wiedersehen. Ich kann mir allerdings beim besten Willen nicht vorstellen, dass meine Eltern da sein werden. Nicht nach dem zornigen Blick, den mein Vater mir nach der Zeremonie zugeworfen hat. Nicht nachdem beide Kinder sie im Stich gelassen haben.
Vielleicht hätten sie mich sogar verstanden, wenn ich ihnen gesagt hätte, dass ich eine Unbestimmte bin und dass ich nicht wüsste, wofür ich mich entscheiden soll. Vielleicht hätten sie mir geholfen herauszufinden, was genau eine Unbestimmte ist, was es bedeutet, so jemand zu sein, und warum es gefährlich ist. Aber ich habe ihnen dieses Geheimnis niemals anvertraut und deswegen werde ich es auch niemals erfahren.
Als die Tränen aufsteigen, beiße ich die Zähne zusammen. Ich habe es satt. Ich habe meine Tränen und meine Schwäche satt, aber ich kann mich nicht dagegen wehren.
Vielleicht bin ich darüber
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