Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
halte mich dicht an Christina. Ich gebe es zwar ungern zu, nicht einmal vor mir selbst, aber wenn ich in ihrer Nähe bin, beruhigt mich das. Falls Peter mich wieder aufs Korn nimmt, wird sie mich verteidigen.
Was bin ich doch für ein Feigling. Ich sollte Peters Beleidigungen an mir abprallen lassen und mich lieber darauf konzentrieren, besser im Zweikampf zu werden, damit es mir nicht wieder so übel ergeht wie gestern. Und ich muss willens sein, mich selbst zu verteidigen, anstatt mich auf andere Leute zu verlassen.
Four führt uns zum Tor, das so breit ist wie ein Haus und auf eine holprige Straße hinausführt. Als Kind bin ich mit meinen Eltern hierhergekommen, wir sind mit dem Bus die Straße entlanggefahren, zu den Farmen der Amite, wo wir den ganzen Tag mit Tomatenernten zubrachten und in der Sonne schwitzten.
Wieder zieht sich mein Magen zusammen.
» Wenn ihr es am Ende eurer Initiation nicht unter die ersten fünf schafft, werdet ihr wahrscheinlich hier landen«, sagt Four, als er das Tor erreicht. » Und wenn ihr erst einmal bei der Wachmannschaft am Zaun seid, habt ihr nur noch geringe Aufstiegschancen. Ihr könnt vielleicht jenseits der Amite-Farmen auf Patrouille gehen, aber…«
» Auf Patrouille? Wieso das denn?«, will Will wissen.
Four zieht die Schulter hoch. » Das merkst du dann schon, wenn du zu den Wachen abkommandiert wirst. Wie ich schon sagte, die meisten, die den Zaun als junge Leute bewacht haben, bewachen ihn auch noch heute. Falls es euch tröstet, manche von ihnen schwören Stein und Bein, dass es gar nicht so übel ist, wie es den Anschein hat.«
» Ja. Wenigstens müssen wir nicht Bus fahren oder den Dreck anderer Leute wegräumen wie die Fraktionslosen«, raunt Christina mir zu.
» Auf welchem Platz warst du seinerzeit?«, fragt Peter Four.
Zu meiner Verwunderung verweigert Four die Antwort nicht, sondern blickt Peter ruhig an und sagt: » Ich war Erster.«
» Und dann hast du dich für diesen Job entschieden?« Peters dunkelgrüne Augen werden rund. Wüsste ich nicht genau, was für ein Mensch er ist, ich würde glatt auf diesen Unschuldsblick reinfallen. » Warum hast du keinen Job bei der Regierung angenommen?«
» Ich wollte keinen«, antwortet Four tonlos. Ich muss daran denken, was er am ersten Tag über seine Arbeit im Kontrollraum gesagt hat, von wo aus die Ferox die Sicherheit der Stadt überwachen. Umgeben von Computern, kann ich ihn mir nur schwer vorstellen. Für mich gehört er in den Trainingsraum.
In der Schule haben wir über die Berufe gesprochen, die die verschiedenen Fraktionen ausüben. Ferox haben in dieser Hinsicht wenig Auswahl. Wir können den Zaun bewachen oder für die Sicherheit in unserer Stadt sorgen. Wir können im Hauptquartier der Ferox arbeiten, Tattoos stechen, Waffen anfertigen oder auch gegeneinander kämpfen, um andere zu unterhalten. Oder wir können für die Ferox-Anführer arbeiten. Das scheint mir die beste Wahl zu sein.
Das Problem ist nur, dass ich auf einem absolut miesen Rang stehe. Und am Ende von Phase eins stehe ich vielleicht ganz ohne Fraktion da.
Am Tor halten wir an. Die eine oder andere Wache schaut zu uns herüber, aber nicht sehr viele. Die anderen sind vollauf damit beschäftigt, die beiden Torflügel aufzuziehen– die doppelt so hoch sind wie sie selbst und um ein Vielfaches breiter–, um einen Lastwagen passieren zu lassen.
Der Fahrer trägt einen Hut, einen Bart und ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Mitten im Tor bleibt er stehen und steigt aus. Die Rückwand des Fahrzeugs ist offen, auf den gestapelten Kisten sitzen ein paar Amite. Ich schaue mir die Kisten genauer an– sie sind voller Äpfel.
» Beatrice?«
Ich wirble herum, als ich so unerwartet meinen Namen höre. Ein Amite auf der Ladefläche steht auf. Er hat blondes Lockenhaar und eine Nase, deren Form mir wohlvertraut ist: vorne breit und am Nasensattel schmal. Robert. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie er bei der Zeremonie der Bestimmung gewählt hat, aber ich erinnere mich an nichts, nur an das Blut, das mir in den Ohren pochte. Wer sonst noch hat die Fraktion gewechselt? Susan etwa? Gibt es in diesem Jahr überhaupt Neulinge bei den Altruan? Wenn die Altruan immer weniger werden, dann sind wir daran schuld– Robert, Caleb und ich. Ja, ich. Rasch verdränge ich den Gedanken.
Robert springt von der Ladefläche. Er trägt ein graues T-Shirt und Jeans. Er zögert einen Augenblick, dann kommt er auf mich zu und schließt mich in die Arme.
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