Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
» Klettere du nach unten. Ich folge dir.«
Four nickt und steigt nach unten. Seine Beine sind so lang, dass er mühelos Trittplätze findet, auf die er die Füße setzen und auf denen er sich Strebe um Strebe hinablassen kann. Sogar im Dunkeln sehe ich, dass seine Hände knallrot sind und zittern.
Ich drücke mich mit meinem ganzen Gewicht gegen eine der Querstreben und taste mit dem Fuß ein Stück tiefer nach Halt. Die Strebe löst sich quietschend aus der Verankerung und kracht gegen ein halbes Dutzend anderer Streben, ehe sie polternd auf dem Pflaster landet. Hilflos baumle ich an dem Gerüst und halte mich krampfhaft mit den Händen fest, meine Beine schwingen frei in der Luft. Ich stoße einen erstickten Schrei aus. » Four!«
Verzweifelt taste ich mit den Füßen nach Halt, aber eine sichere Trittstelle ist nirgendwo in Reichweite. Meine Hände sind schweißnass. Ich muss daran denken, wie ich sie vor der Zeremonie der Bestimmung an meiner Hose abgewischt habe und auch vor dem Eignungstest, vor allen entscheidenden Augenblicken, und kann nur mit Mühe einen Verzweiflungsschrei unterdrücken. Ich werde abrutschen. Ich werde abrutschen.
» Halte dich fest!«, ruft er. » Halte dich einfach nur fest. Ich habe eine Idee.«
Und dann klettert er weiter nach unten.
Aber das ist die falsche Richtung! Er soll zu mir hochklettern, nicht von mir weg!
Gebannt schaue ich auf meine Hände, mit denen ich die schmalen Stäbe so fest umklammere, dass meine Knöchel weiß hervortreten. Meine Finger sind dunkelrot, fast violett. Sehr viel länger kann ich mich nicht halten.
Es wird also nicht mehr lange dauern.
Ich drücke die Augen zu. Lieber nicht hinschauen. Lieber so tun, als gäbe es das alles gar nicht. Fours Turnschuhe quietschen auf dem Metall und dann höre ich schnelle Tritte auf den Leitersprossen.
» Four!«, schreie ich aus Leibeskräften. Vielleicht hat er sich aus dem Staub gemacht. Vielleicht hat er mich allein zurückgelassen. Vielleicht ist es ein Test, wie stark, wie tapfer ich bin. Ich atme durch die Nase ein und mit dem Mund wieder aus. Ich zähle meine Atemzüge, um mich zu beruhigen. Eins, zwei. Ein, aus. Mach schon, Four, ist alles, was ich denken kann. Mach schon, tu endlich was.
Dann höre ich ein Quietschen und ein Knirschen. Die Strebe, an der ich mich festhalte, erbebt. Ich schluchze mit zusammengebissenen Zähnen, während ich mich krampfhaft festklammere.
Plötzlich setzt sich das Riesenrad in Bewegung.
Der Wind nimmt zu, schwillt an, er pfeift um meine Hand- und Fußgelenke. Vorsichtig mache ich die Augen auf. Ich bewege mich… nach unten, auf den Boden zu. Ich muss lachen, ich bin schwindelig vor lauter Freude. Die Erde kommt immer näher. Aber ich werde auch immer schneller. Wenn ich mich nicht rechtzeitig fallen lasse, werden mich die Gondeln und das Metallgerüst zermalmen.
Das Riesenrad nimmt immer mehr Fahrt auf. Ich spanne meinen Körper, warte ab, und erst als ich die Risse auf dem Gehweg erkennen kann, lasse ich mich fallen.
Ich schlage mit den Füßen zuerst auf und meine Beine knicken unter mir weg. Fast automatisch ziehe ich die Arme an und rolle, so schnell ich kann, zur Seite. Dabei schürfe ich mir das Gesicht auf dem harten Asphalt auf, aber ich drehe mich gerade noch rechtzeitig um, um die nachfolgende Gondel zu bemerken, die auf mich zukommt wie ein riesiger Schuh, der mich zertreten will. Ich rolle noch ein Stück weiter weg, nur einen Moment, bevor der Boden der Gondel meine Schulter streift.
Ich bin in Sicherheit. Erleichtert schlage ich die Hände vors Gesicht. Ich versuche gar nicht erst aufzustehen; wenn ich es täte, würde ich gleich wieder hinfallen. Ich höre Schritte. Four fasst mich an den Handgelenken. Ich lasse es zu, dass er meine Hände von meinem Gesicht wegzieht.
Er nimmt eine meiner Hände in seine beiden Hände. Die Wärme, die von ihm ausgeht, lässt mich den Schmerz in meinen völlig verkrampften Fingern vergessen.
» Alles in Ordnung?«, fragt er und drückt unsere Hände gegeneinander.
» Ja.«
Er fängt an zu lachen, und nach kurzem Zögern stimme ich in sein Lachen ein. Ich setze mich auf und stütze mich mit der freien Hand ab. Mir ist nur allzu bewusst, wie dicht wir beisammensitzen– höchstens eine Handbreit voneinander entfernt. Der Raum dazwischen knistert vor lauter Spannung. Von mir aus könnte der Abstand noch kleiner sein.
Four steht auf und zieht mich hoch. Das Riesenrad dreht sich immer noch, der dabei entstehende Wind
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