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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Roth
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hat. Ohne lange zu überlegen, lasse ich meine Beine über die Kante baumeln. Four kauert sich neben mich und drückt sich an die Metallstreben; sein Atem geht schwer.
    » Du hast Höhenangst«, sage ich ihm ins Gesicht. » Wie schaffst du es, damit bei den Ferox zurechtzukommen?«
    » Indem ich sie nicht beachte«, antwortet er. » Wenn ich Entscheidungen treffe, dann tue ich so, als gäbe es diese Angst nicht.«
    Ich starre ihn verblüfft an. Ich kann mir nicht helfen, aber keine Furcht zu haben, ist etwas anderes, als nur so zu tun, als hätte man keine.
    Ich habe ihn zu lange angestarrt.
    » Was ist los?«, fragt er ruhig.
    » Nichts.«
    Ich drehe mich weg und lasse den Blick über die Stadt schweifen. Ich muss mich konzentrieren, schließlich bin ich ja aus einem ganz bestimmten Grund hier heraufgeklettert.
    In der Stadt ist es stockdunkel, aber selbst wenn es nicht so wäre, könnte ich nicht weit sehen. Ein Gebäude nimmt mir die Sicht.
    » Wir sind noch nicht hoch genug.« Ich schaue nach oben. Über mir ist ein Gewirr aus weißen Stangen, das Gerüst des Riesenrads. Wenn ich vorsichtig bin und meine Füße zwischen die Streben und die Stützträger klemme, kann ich mir genügend Halt verschaffen, um halbwegs sicher hinaufzuklettern.
    » Ich steige noch ein Stück weiter hinauf«, sage ich entschlossen und stehe auf. Ich packe eine der Stangen über meinem Kopf und ziehe mich daran hoch. Ein stechender Schmerz schießt in meine verletzte Seite, aber ich achte nicht darauf.
    » Teufel noch mal, Stiff«, knurrt Four.
    » Du musst ja nicht mitkommen«, sage ich, den Blick auf das Labyrinth aus Eisenstangen gerichtet. Ich setze den Fuß auf eine Stelle, an der sich zwei Streben kreuzen, ziehe mich nach oben und greife dabei nach einer weiteren Strebe. Einen Augenblick lang baumle ich in der Luft, mein Herz klopft so stark, dass ich nichts anderes mehr wahrnehme. Mein ganzes Denken konzentriert sich auf diesen Herzschlag, pulsiert im gleichen Rhythmus.
    » Ich komme mit«, sagt er.
    Es ist völlig verrückt, und das weiß ich auch. Ein winziger Fehlgriff, einen Sekundenbruchteil zaudern, und mein Leben ist zu Ende. Hitze wallt in mir auf, aber als ich nach der nächsten Strebe greife, lächle ich. Ich ziehe mich hoch, mit zittrigen Armen, und drücke die Beine durch, sodass ich fest stehe. Als ich mich sicher fühle, schaue ich zu Four hinunter. Aber statt seiner sehe ich nur Tiefe, und die verschlägt mir den Atem.
    Im Geiste sehe ich mich fallen, sehe, wie mein Körper gegen die Streben kracht, sehe mich mit verrenkten Gliedern auf dem Pflaster liegen, so wie Ritas Schwester, die es nicht geschafft hat, aufs Dach zu springen. Four ergreift die Strebe mit einer Hand und zieht sich spielerisch daran hoch, so als setze er sich gerade mal eben im Bett auf. Trotzdem sieht man ihm an, dass er sich nicht wohl dabei fühlt, er ist so angespannt, dass sich seine Armmuskeln genau abzeichnen.
    Schluss damit. Es ist einfach lächerlich, in fast hundert Fuß Höhe über seine muskulösen Arme nachzudenken.
    Ich greife nach der nächsten Strebe und taste mit dem Fuß nach einem Halt. Als ich wieder hinunter auf die Stadt schaue, versperrt mir das Gebäude nicht mehr die Sicht. Ich bin hoch genug, um die Skyline zu sehen. Die meisten Gebäude heben sich schwarz vor dem dunkelblauen Himmel ab, nur die roten Lichter auf der Zentrale leuchten; sie blinken halb so schnell wie mein Herzschlag.
    Die Straßen zwischen den Häuserreihen sehen aus wie Tunnel. Anfangs sehe ich nur ein dunkles Tuch über der Landschaft vor mir liegen, die Gebäude und der Himmel und die Straßen und die Landschaft heben sich kaum voneinander ab. Dann erblicke ich ein kleines flackerndes Licht am Boden.
    » Siehst du das?« Ich zeige auf das Licht.
    Als Four direkt hinter mir ist, hört er auf zu klettern und blickt über meine Schulter. Sein Kinn ist ganz nah neben meinem Kopf, sein Atem streift mein Ohr, und ich bin wieder so zittrig wie vorhin, als ich die ersten Stufen hochgeklettert bin.
    » Ja.« Er grinst breit. » Es kommt vom Park am Anfang des Piers. Wirklich sehr schlau. Drum herum ist freier Platz und die Bäume geben trotzdem Deckung. Leider nicht genug.«
    » Okay.« Ich blicke ihn über die Schulter hinweg an. Wir sind uns so nahe, dass ich vergesse, wo wir sind. Stattdessen fällt mir auf, dass seine Mundwinkel von Natur aus leicht nach unten gebogen sind, genau wie meine, und dass er eine Narbe am Kinn hat.
    » Hm…« Ich räuspere mich.

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