Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
lässt meine Haare flattern.
» Du hättest mir ruhig sagen können, dass das Riesenrad noch funktioniert«, sage ich möglichst lässig. » Dann hätten wir nicht hochklettern müssen.«
» Wenn ich es gewusst hätte, dann hätte ich es dir gesagt«, antwortet er. » Ich konnte dich doch nicht einfach so hängen lassen, also habe ich einen Versuch riskiert. Komm, jetzt holen wir uns ihre Flagge.«
Four zögert einen Moment, dann nimmt er meinen Arm. Seine Fingerspitzen bohren sich in die Innenseite meines Ellbogens. Wäre er in einer anderen Fraktion, hätte er mir eine kurze Verschnaufpause gegönnt, aber er ist ein Ferox, also lächelt er nur aufmunternd und macht sich dann auf den Weg zum Karussell, wo ein Teil unserer Mannschaft die Flagge bewacht. Halb renne, halb humple ich neben ihm her. Ich fühle mich noch ein wenig zittrig, aber mein Verstand ist hellwach und meine Sinne funktionieren gut, denn ich spüre mit jeder Faser meines Körpers seine Hand, die mich stützt.
Christina sitzt auf einem Plastikpferdchen, sie hat ihre langen Beine übereinandergeschlagen und hält sich mit der Hand an der Karussellstange fest. Hinter ihr steckt unsere Fahne, im Dunkeln sieht sie aus wie ein leuchtendes Dreieck. Drei Ferox-Initianten lungern zwischen den alten, schmutzigen Tierfiguren herum. Einer hat die Hand auf den Kopf eines Pferdes gelegt, zwischen seinen Fingern hindurch blickt mich ein kaputtes Auge an. Und eine von den älteren Ferox sitzt am Rand des Karussells und kratzt mit dem Daumen an den vier Ringen in ihren Augenbrauen.
» Wo sind die anderen hin?«, fragt Four.
Er wirkt genauso aufgeregt, wie ich mich fühle, seine Augen sind vor Tatendrang weit aufgerissen.
» Die suchen unsere Gegner. Sagt mal, habt ihr das Riesenrad angestellt?«, fragt das ältere Mädchen. » Was zum Teufel habt ihr euch dabei gedacht? Ihr hättet genauso gut schreien können: › Hallo, hier sind wir! Kommt und holt euch die Flagge! ‹ « Sie schüttelt den Kopf. » Wenn ich in diesem Jahr wieder verliere, dann ist die Blamage unerträglich. Dreimal hintereinander, das darf einfach nicht sein.«
» Das Riesenrad spielt keine Rolle«, antwortet Four. » Wir wissen, wo sie sind.«
» Wir?«, fragt Christina und schaut abwechselnd Four, dann mich an.
» Ja, während ihr Däumchen gedreht habt, ist Tris am Riesenrad hochgeklettert, um nach der anderen Mannschaft Ausschau zu halten«, sagt er.
» Und was machen wir jetzt?«, fragt ein Ferox-Anfänger gähnend.
Four blickt mich an. Langsam wandern die Augen der anderen von ihm zu mir. Auch Christina fixiert mich. Gerade will ich die Schultern zucken und sagen, dass ich es auch nicht weiß, als ich plötzlich im Geiste den Pier vor mir sehe. Und da habe ich eine Idee.
» Wir teilen uns in zwei Gruppen auf«, sage ich. » Vier von uns gehen auf die rechte Seite des Piers, drei auf die linke. Die gegnerische Mannschaft hält sich im Park auf. Die Vierergruppe wird sie angreifen, während die Dreiergruppe sich unbemerkt hinter sie schleicht und die Fahne ergattert.«
Christina starrt mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal. Ich kann ihr keinen Vorwurf machen, ich erkenne mich ja selbst kaum wieder.
» Klingt gut«, sagt das ältere Mädchen und klatscht in die Hände. » Okay, nutzen wir die Gunst der nächtlichen Stunde und bringen es hinter uns.«
Christina geht mit mir auf die rechte Seite, zusammen mit Uriah, dessen Zähne besonders hell schimmern, weil seine bronzefarbene Haut mit der Dunkelheit verschmilzt. Trotzdem fällt mir auf, dass hinter seinem Ohr eine Schlange eintätowiert ist, deren Schwanz sich um sein Ohrläppchen windet. Bevor ich sie mir genauer ansehen kann, rennt Christina los. Ich muss aufpassen, dass sie mich nicht abhängt.
Mit meinen kurzen Beinen muss ich doppelt so schnell rennen wie sie, um mit ihr Schritt zu halten. Beim Laufen wird mir klar, dass nur einer von uns die Flagge als Erster berühren kann und dass es völlig egal sein wird, wessen Plan es war, der uns zur Flagge geführt hat, wenn ich sie nicht als Erste zu fassen bekomme. Obwohl ich kaum noch Luft kriege, laufe ich schneller, um Christina dicht auf den Fersen zu bleiben. Ich ziehe mein Gewehr von der Schulter und lege den Finger an den Abzug.
Wir haben das Ende des Piers erreicht. Ich presse den Mund zu, um nicht laut nach Luft zu schnappen und uns so zu verraten. Wir laufen langsamer, damit man unsere Schritte nicht hört, und ich halte wieder nach dem blinkenden Licht
Weitere Kostenlose Bücher