Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Augenlider geschlossen halten. Ich höre Schritte und das Quietschen eines Schuhs. Dann einen dumpfen Schlag.
Und dann ein Aufheulen, so grässlich, dass mir das Blut gefriert und die Haare zu Berge stehen. Ich schlage die Decke zurück, springe aus dem Bett und bleibe barfuß auf dem Steinfußboden stehen. Es ist zu dunkel, um die Ursache des Schreis festzustellen, aber ein paar Betten weiter liegt eine dunkle Masse auf dem Boden.
Der zweite Schrei zerreißt mir fast das Trommelfell.
» Macht das Licht an!«, ruft jemand.
Ich gehe in die Richtung, aus der der Schrei gekommen ist, langsam, damit ich nicht über etwas stolpere. Ich bin wie in Trance. Ich will eigentlich gar nicht sehen, was los ist. Ein solcher Schrei bedeutet Blut und Knochen und schlimmste Qualen. Ein solcher Schrei kommt aus dem tiefsten Inneren und füllt jede Faser aus.
Das Licht geht an.
Edward liegt neben seinem Bett auf dem Fußboden und presst sich die Hand aufs Gesicht. Um seinen Kopf sehe ich Blut und zwischen seinen verkrampften Fingern ragt ein silberner Messergriff hervor.
Das Blut rauscht in meinen Ohren, denn ich erkenne das Messer sofort: Es ist ein Buttermesser aus dem Speisesaal. Jemand hat ihm ins Auge gestochen.
Myra, die direkt neben Edwards Füßen steht, schreit wie wahnsinnig. Ein anderer schreit ebenfalls. Und eine dritte Person ruft um Hilfe, während Edward auf dem Fußboden sich windet und winselt. Ich knie mich neben seinen Kopf und lege ihm die Hand auf die Schulter.
» Bleib liegen.« Ich bin vollkommen ruhig. Um mich herum nehme ich nichts wahr, so als wäre mein Kopf unter Wasser. Edward schlägt um sich und ich sage laut und deutlich: » Ich habe gesagt, du sollst liegen bleiben. Atme.«
» Mein Auge!«, brüllt er.
Es riecht säuerlich. Jemand hat sich übergeben.
» Zieht es raus!«, schreit Edward. » Zieht es raus, zieht es raus, zieht es raus!«
Ich schüttle den Kopf, bis mir einfällt, dass er mich ja nicht sehen kann. Ich bin nahe daran, hysterisch zu lachen. Ich muss mich beherrschen, wenn ich ihm helfen will. Ich darf jetzt nicht an mich denken.
» Nein«, beschwöre ich ihn. » Du musst warten, bis ein Arzt das Messer entfernt. Hörst du? Das muss ein Arzt machen. Atme weiter.«
» Es tut weh«, schluchzt er.
» Ich weiß, dass es wehtut.« Irgendwie bin nicht ich es, die spricht, sondern es ist die Stimme meiner Mutter. Ich sehe sie, wie sie vor mir auf dem Gehweg vor unserem Haus kniet und mir die Tränen fortwischt, als ich mir das Knie aufgeschunden habe. Damals war ich fünf.
» Alles wird wieder gut.« Ich gebe mir Mühe, überzeugend und zuversichtlich zu klingen, damit er nicht merkt, dass es nur leeres Gerede ist, denn genau das ist es. Ich weiß nicht, ob es je wieder gut werden wird. Ich bezweifle es.
Als die Sanitäterin eintrifft, befiehlt sie mir zurückzutreten, und ich mache ihr Platz. Meine Hände und meine Füße sind voller Blut. Ein kurzer Blick in die Runde sagt mir, dass nur zwei Leute fehlen.
Drew.
Und Peter.
Nachdem sie Edward weggebracht haben, nehme ich ein Bündel Kleider mit ins Bad und wasche mir die Hände. Christina begleitet mich und bleibt an der Tür stehen; sie spricht kein Wort und ich bin froh darüber. Es gibt auch nicht viel zu sagen.
Ich schrubbe meine Handflächen und kratze mit einem Fingernagel das Blut unter den anderen Fingernägeln weg. Ich ziehe die Hose an, die ich mitgebracht habe, und werfe die schmutzige in die Mülltonne. Dann hole ich mir so viele Papierhandtücher, wie ich tragen kann. Jemand muss das Schlafzimmer aufwischen, und da an Schlaf nicht zu denken ist, kann ich das ebenso gut jetzt sofort tun.
Als ich nach der Türklinke fasse, sagt Christina: » Du weißt, wer das getan hat, nicht wahr?«
» Ja.«
» Sollten wir es jemandem sagen?«
» Glaubst du wirklich, dass einer von den Ferox etwas dagegen unternehmen wird?«, frage ich. » Leute, die dich über dem Abgrund hängen lassen? Leute, deretwegen wir uns bis zur Besinnungslosigkeit die Köpfe einschlagen?«
Sie sagt kein Wort.
Eine halbe Stunde lang knie ich alleine auf dem Boden des Schlafsaals und schrubbe Edwards Blut weg. Christina wirft die schmutzigen Papiertücher fort und besorgt mir neue. Myra ist verschwunden. Wahrscheinlich ist sie mit Edward ins Krankenhaus gefahren.
Niemand schläft viel in dieser Nacht.
» Es mag komisch klingen«, sagt Will, » aber ich wünschte, wir hätten heute keinen freien Tag.«
Ich nicke. Ich weiß, was er meint. Wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher