Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Blick. Ich höre, wie mein Herz schlägt. Ich habe ihn schon zu lange angeblickt, aber er erwidert meinen Blick, und es kommt mir so vor, als würden wir alle beide etwas sagen, was der andere nicht hören kann, aber vielleicht bilde ich es mir auch nur ein. Zu lange– und jetzt noch länger. Mein Herz schlägt noch lauter und seine unergründlichen Augen verschlingen mich.
Ich stoße die Tür auf und renne den Gang entlang.
Ich sollte mich von ihm nicht so leicht aus der Fassung bringen lassen. Ich sollte an nichts anderes denken als an meine Initiation, an die Simulationen, die mich viel mehr verstören müssten, als sie es tun, die dazu gedacht sind, meinen Willen zu brechen, so wie es bei den meisten anderen auch der Fall ist. Drew kann nicht mehr schlafen– er starrt an die Wand, zusammengerollt wie ein Ball. Al schreit jede Nacht, weil er Albträume hat, und weint in sein Kissen. Meine Albträume und meine zerkauten Fingernägel sind nichts dagegen.
Jedes Mal, wenn Al schreit, wache ich auf und starre auf die Spiralfedern im oberen Bett, und ich frage mich, was um alles in der Welt nicht stimmt bei mir, weil ich mich immer noch stark und voller Kraft fühle, während alle um mich herum zusammenbrechen. Ist es, weil ich eine Unbestimmte bin? Macht es mir deshalb so wenig aus oder liegt es an etwas anderem?
Als ich in den Schlafsaal zurückkomme, erwarte ich, dass alles genauso ist wie am Tag zuvor, nämlich dass ein paar von uns im Bett liegen oder ins Leere starren. Stattdessen stehen sie in einer Ecke beieinander. Sie umringen Eric, der eine Tafel in der Hand hat, die er so hält, dass ich nicht lesen kann, was darauf geschrieben steht. Ich stelle mich neben Will.
» Was ist hier los?«, frage ich ihn leise. Hoffentlich ist es nicht schon wieder ein Schmähartikel, ich weiß nicht, ob ich noch mehr Feindschaft ertragen kann.
» Die Bewertungen für die zweite Phase«, antwortet er.
» Ich dachte, nach Teil zwei wird niemand weggeschickt.«
» Das stimmt auch. Es ist so eine Art Zwischenbericht.«
Ich nicke, aber beim Anblick der Tafel überkommt mich ein ungutes Gefühl. In meinem Magen schwimmt ein dicker Klumpen. Eric hält die Tafel hoch und hängt sie an die Wand. Als er zur Seite geht, ist es plötzlich mucksmäuschenstill, und ich recke den Hals, um zu sehen, was darauf zu lesen ist.
Mein Name steht an erster Stelle.
Alle Blicke richten sich auf mich. Ich lese weiter. Christina und Will stehen an dritter und vierter Stelle. Peter ist Zweiter, aber ein Blick auf die Zeit, die neben seinem Namen angegeben ist, macht deutlich, wie beträchtlich der Unterschied zwischen uns beiden ist. Die durchschnittliche Zeit, die Peter in den Simulationen zugebracht hat, ist acht Minuten. Meine ist zwei Minuten und fünfundvierzig Sekunden.
» Gut gemacht, Tris«, sagt Will leise.
Ich nicke und kann meinen Blick nicht von der Tafel wenden. Ich sollte mich eigentlich darüber freuen, dass ich den ersten Platz belege, aber ich weiß auch, was für Folgen das haben kann. Wenn Peter und seine Freunde mich vorher verachtet haben, dann werden sie mich jetzt abgrundtief hassen. Jetzt nehme ich für sie Edwards Stelle ein. Das nächste Auge könnte meines sein. Oder sogar noch Schlimmeres.
Als Name steht an letzter Stelle.
Die Leute verlaufen sich langsam, nur Peter, Will, Christina, Al und ich bleiben stehen. Ich will Al trösten. Ich will ihm sagen, dass ich nur deshalb so gut bin, weil mein Gehirn anders funktioniert.
Peter dreht sich langsam um, seine Körperhaltung verrät, wie angespannt er ist. Ein noch so finsterer Blick von ihm hätte mir weniger Angst eingejagt als das, was jetzt aus seinen Augen spricht– purer Hass. Er steuert Richtung Bett, aber im letzten Augenblick wirbelt er herum, stößt mich gegen die Wand und hält mich an beiden Schultern fest.
» Ich lasse mich nicht von einer Stiff überholen«, zischt er. Sein Gesicht ist so dicht vor meinem, dass ich seinen schlechten Atem rieche. » Wie hast du das gemacht, he? Wie zum Teufel hast du das gemacht?«
Er zerrt mich zu sich und schleudert mich dann gegen die Wand. Ich beiße die Zähne zusammen, damit ich nicht laut aufschreie, denn der Schmerz schießt bis in meine Zehenspitzen. Will packt Peter am Kragen und zieht ihn von mir weg.
» Lass sie in Frieden«, sagt er. » Nur Feiglinge schikanieren kleine Mädchen.«
» Kleine Mädchen?«, schnaubt Peter und schiebt Wills Hand beiseite. » Bist du blind oder nur blöd? Sie wird dich aus
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