Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Glückwünschen zumute, weil ihre Bewertungen nicht so gut sind. Also hör auf, Trübsal zu blasen, und komm mit. Ich werde den Muffin von Marlenes Kopf schießen.«
Diese Vorstellung ist so albern, dass ich lospruste. Ich stehe auf und folge Uriah zum Ende des Gangs, wo Lynn und Marlene warten. Lynn schaut mich aus zusammengekniffenen Augen an, aber Marlene lächelt.
» Warum bist du nicht zum Feiern gegangen?«, fragt sie. » Wenn du das jetzt nicht mehr komplett versemmelst, hast du deinen Platz in der Top Ten so gut wie sicher.«
» Für die anderen Fraktionswechsler ist sie viel zu furchtlos«, sagt Uriah.
» Und viel zu selbstlos, um zu feiern«, ergänzt Lynn.
Ich ignoriere ihre Kommentare. » Weshalb willst du Marlene den Muffin vom Kopf schießen?«
» Sie hat mit mir gewettet, dass ich es nicht schaffe, einen kleinen Gegenstand aus hundert Fuß Entfernung zu treffen«, erklärt Uriah. » Und ich habe mit ihr gewettet, dass sie nicht den Mumm hat, sich hinzustellen, wenn ich es probiere. Das passt doch prima zusammen.«
Der Trainingsraum, in dem ich zum ersten Mal mit einer Pistole geschossen habe, ist nicht weit weg. Wir brauchen keine Minute bis dorthin. Uriah legt einen Lichtschalter um. Alles sieht noch genauso aus wie beim letzten Mal: Zielscheiben lehnen an einer Wand, an der gegenüberliegenden Wand stehen Tische, auf denen sich Waffen stapeln.
» Lassen sie die einfach so herumliegen?«, frage ich.
» Ja, aber sie sind nicht geladen.« Uriah schiebt sein T-Shirt hoch. An seinem Hosengürtel, genau unter einem Tattoo, steckt eine Pistole. Ich starre auf das Tattoo und versuche herauszufinden, was es darstellt, doch da lässt er das T-Shirt schon wieder fallen. » Okay. Stell dich vor die Zielscheibe.«
Marlene hüpft in Richtung Wand.
» Du willst doch nicht im Ernst auf sie schießen, oder?«, frage ich Uriah.
» Für wen hältst du uns? Es ist keine echte Waffe«, sagt Lynn leise. » Die Pistole schießt nur mit Plastikkugeln. Schlimmstenfalls stechen sie ein bisschen im Gesicht und Marlene kriegt eine Strieme ab.«
Marlene stellt sich vor eine der Zielscheiben und legt den Muffin auf ihren Kopf. Uriah drückt ein Auge zu und zielt.
» Warte!«, ruft Marlene. Sie bricht ein Stück von dem Muffin ab und stopft es sich in den Mund. » Mmkay!«, ruft sie mit vollem Mund und streckt den Daumen nach oben.
» Deine Wertung ist bestimmt gut«, sage ich zu Lynn.
Sie nickt. » Uriah ist Zweiter. Ich bin Erste. Marlene ist Vierte.«
» Du bist nur um Haaresbreite Erste geworden«, sagt Uriah, der immer noch zielt. Dann drückt er ab. Der Muffin fällt Marlene vom Kopf. Sie hat nicht einmal geblinzelt.
» Wir haben beide gewonnen!«, ruft sie.
» Vermisst du deine alte Fraktion?«, fragt mich Lynn.
» Manchmal. Es ging ruhiger zu. Nicht so anstrengend.«
Marlene hebt den Muffin vom Boden auf und beißt hinein. Uriah ruft: » Das ist ja widerlich!«
» Die Initiation dient dazu, uns auf das zurückzuführen, was wir wirklich sind. Behauptet jedenfalls Eric«, sagt Lynn und zieht die Augenbraue hoch.
» Four sagt, sie dient dazu, uns vorzubereiten.«
» Tja, die beiden sind selten einer Meinung.«
Ich nicke. Four ist der Ansicht, dass Eric eine völlig falsche Vorstellung von den Ferox hat, aber ich wünschte mir, er würde mir sagen, welche er für die richtige hält. Mir scheint immer wieder etwas davon aufzublitzen– die Ferox, die jubeln, als ich vom Dach springe; das Geflecht von Armen, das mich auffängt, nachdem ich am Stahlseil hinuntergerutscht bin–, aber das genügt mir nicht. Hat er das Manifest der Ferox gelesen? Ist es das, woran er glaubt– an den Mut, der die Menschen bewegt, sich für andere einzusetzen ?
Die Tür geht auf. Shauna, Zeke und Four kommen in dem Augenblick herein, als Uriah auf ein anderes Ziel schießt. Die Plastikkugel prallt von der Mitte der Zielscheibe ab und rollt über den Boden.
» Mir war so, als hätte ich hier drinnen etwas gehört«, sagt Four.
» Mal wieder mein dämlicher Bruder«, seufzt Zeke. » Du hast nach dem Unterricht hier nichts verloren. Sei vorsichtig, sonst meldet Four es Eric, und dann bist du so gut wie tot.«
Uriah schneidet seinem Bruder eine Grimasse und steckt die Pistole weg. Marlene kommt herbeigeschlendert und beißt im Gehen in ihren Muffin. Four tritt zur Seite, um uns durchzulassen.
» Du verrätst uns doch nicht etwa an Eric?«, sagt Lynn und blickt Four misstrauisch an.
» Nein, tue ich nicht«, sagt er knapp.
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