Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
der Wertungsliste und damit aus der Fraktion drängen, dann stehst du mit leeren Händen da. Denn sie weiß, wie man andere Leute manipuliert, und du nicht. Wenn du kapiert hast, dass sie darauf aus ist, uns alle niederzumachen, dann sag mir Bescheid.«
Er stürmt aus dem Schlafsaal. » Danke«, nicke ich Will zu.
» Hat er recht?«, fragt Will leise. » Hast du vor, uns alle zu manipulieren?«
» Wie um alles in der Welt sollte ich das anstellen?«, frage ich ihn wütend. » Ich versuche, alles so gut wie möglich zu machen, wie jeder andere auch.«
» Ich weiß nicht.« Er zieht die Schultern hoch. » Erst tust du, als wärst du schwach, damit wir dich alle bedauern, und dann bist du knallhart und machst uns alle fertig. Wäre doch denkbar.«
» Euch fertigmachen?«, wiederhole ich. » Ich bin deine Freundin. Das würde ich niemals tun.«
Er antwortet nichts darauf. Ich sehe ihm an, dass er mir nicht glaubt– jedenfalls nicht ganz.
» Sei kein Idiot, Will.« Christina springt von ihrem Bett herunter. Sie mustert mich ohne jedes Mitleid und sagt ganz sachlich: » Sie schauspielert nicht.«
Dann dreht sie sich um und geht, ohne die Tür hinter sich zuzuwerfen. Will folgt ihr. Ich bin mit Al alleine im Raum. Die Erste und der Letzte.
Al hat noch nie mickrig gewirkt, jetzt aber schon. Er lässt seine Schultern hängen und sieht zerknittert aus wie ein altes Stück Papier. Er setzt sich auf seine Bettkante.
» Geht’s dir gut?«, frage ich.
» Klar«, antwortet er.
Sein Gesicht ist puterrot. Ich schaue weg. Die Frage war reine Höflichkeit. Jeder, der Augen im Kopf hat, sieht, dass es Al nicht gut geht.
» Es ist ja noch nicht vorbei«, sage ich. » Du kannst dein Ergebnis noch verbessern, wenn du…«
Als er zu mir hochblickt, verstumme ich. Ich weiß ohnehin nicht, was ich ihm noch hätte sagen können. Für Teil zwei der Initiation gibt es keine Strategie. Sie reicht tief in unser Ich hinein und prüft, wie viel Courage dort wirklich vorhanden ist.
» So einfach ist es nicht«, sagt er.
» Ich weiß, dass es nicht einfach ist.«
» Ich glaube nicht, dass du es wirklich weißt.« Er schüttelt den Kopf. Sein Kinn bebt. » Für dich ist es einfach. Das alles ist furchtbar einfach für dich.«
» Das stimmt nicht.«
» Doch, das tut es.« Er schließt die Augen. » Wenn du mir etwas vormachst, hilfst du mir nicht im Geringsten. Für mich ist es… ich weiß nicht mal, ob du mir überhaupt helfen kannst.«
Ich komme mir vor, als sei ich gerade in einen Regenguss geraten und meine Kleider seien schwer vom Wasser. Als sei ich dick und plump und zu nichts nütze. Ich weiß nicht, ob er meint, niemand könne ihm helfen, oder ob er speziell mich damit meint, aber beides gefällt mir nicht. Ich möchte ihm beistehen, aber ich weiß nicht, wie.
» Es…«, stammle ich und will mich entschuldigen. Doch wofür eigentlich? Dafür, dass ich furchtloser bin als er? Weil ich nicht die richtigen Worte finde?
» Ich…«, die Tränen fangen an zu fließen und machen seine Wangen nass, » …ich möchte einfach nur alleine sein.«
Ich nicke und wende mich ab. Es ist keine gute Idee, ihn allein zu lassen, aber ich tue es trotzdem. Die Tür schnappt hinter mir ins Schloss.
Ich gehe am Trinkbrunnen vorbei und durch die Tunnel, die mir am ersten Tag schier endlos vorkamen und die ich jetzt kaum noch wahrnehme. Es ist nicht das erste Mal, dass ich die Werte meiner Familie verraten habe, aber aus irgendeinem Grund ist es diesmal anders. Bisher wusste ich jedes Mal genau, was ich hätte tun sollen, und tat es absichtlich nicht. Diesmal ist das anders. Habe ich die Gabe verloren zu merken, was die Menschen brauchen? Habe ich einen Teil meiner selbst verloren?
Ich laufe immer weiter.
Irgendwie finde ich den Gang, in dem ich an dem Tag, an dem Edward uns verlassen hat, gesessen habe. Ich habe keine Lust, alleine zu sein, aber mir bleibt wohl nichts anderes übrig. Ich schließe die Augen, spüre den kalten Steinboden unter mir und atme die muffige Luft ein.
» Tris!«, ruft plötzlich jemand. Uriah kommt auf mich zugelaufen, Lynn und Marlene im Schlepptau. Lynn hält einen Muffin in der Hand.
» Ich dachte mir, dass ich dich hier finden würde.« Er kauert sich neben mir auf den Boden. » Ich habe gehört, du bist Erste.«
» Ach, und da wolltest du mir gratulieren?«, sage ich spöttisch. » Tja, vielen Dank.«
» Irgendjemand muss dir doch gratulieren«, sagt er. » Ich nehme an, deinen Freunden ist nicht nach
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