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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Roth
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umklammere die Strebe, an der das Netz befestigt ist. Bei meiner Ankunft hatte ich nicht die Kraft, mich mit den Armen hochzustemmen, aber jetzt mache ich es, ohne viel nachzudenken, und lasse mich in die Mitte des Netzes abrollen.
    Über mir sind die verwaisten Gebäude am Kraterrand zu sehen und auch der Himmel. Er ist dunkelblau und sternenlos. Vom Mond keine Spur.
    Der Zeitungsartikel hat mich beunruhigt, aber zum Glück habe ich Freunde, die mich aufmuntern, und das ist ja schon etwas. Als der erste Bericht erschien, hat Christina einen unserer Köche mit ihrem Charme bezirzt, woraufhin wir von seinem Kuchenteig probieren durften. Nach dem zweiten Zeitungsbericht haben mir Uriah und Marlene zur Ablenkung ein Kartenspiel beigebracht und wir spielten zwei Stunden lang im Speisesaal.
    Heute Abend bin ich allerdings lieber allein. Ich will darüber nachdenken, wieso ich hierherkam und wieso ich von Anfang an so wild entschlossen war, hierzubleiben, dass ich sogar von einem Gebäude gesprungen bin, ohne den leisesten Schimmer zu haben, was es bedeutet, eine Ferox zu sein.
    Ich bohre meine Finger durch die Löcher des Netzes. Ich wollte wie die Ferox sein, die ich von der Schule her kannte. Ich wollte so laut und wagemutig und frei sein wie sie. Aber sie alle waren noch keine richtigen Mitglieder der Fraktion, sie taten nur so. Für sie war es ein Spiel, genauso wie es für mich nur ein Spiel war, als ich vom Dach sprang. Damals wusste ich noch nicht, was Angst ist.
    In den vergangenen vier Tagen habe ich vier meiner Ängste kennengelernt. In einem der Angstzustände war ich an einen Pfahl gebunden und Peter hat ein Feuer unter mir entfacht. In einem anderen war ich wieder am Ertrinken, diesmal mitten in einem aufgewühlten Ozean. Im dritten habe ich mit angesehen, wie meine Familie langsam verblutete. Und im vierten haben Leute mich mit einer Schusswaffe bedroht und ich musste sie erschießen. Ich weiß jetzt, was Angst ist.
    Der Wind pfeift über den Kraterrand und ich schließe die Augen. Im Geiste stehe ich wieder an der Dachkante. Ich öffne die Knöpfe meiner grauen Altruan-Kluft, mache meine Arme frei, zeige mehr von meinem Körper als je zuvor. Ich knülle das Hemd zusammen und werfe es Peter an die Brust.
    Ich mache die Augen wieder auf. Nein, ich habe mich getäuscht. Ich bin nicht vom Dach gesprungen, weil ich so sein wollte wie die Ferox. Ich bin gesprungen, weil ich schon so war wie sie und weil ich wollte, dass sie es alle sehen. Ich wollte zu einem Teil meines Ichs stehen, den ich bei den Altruan verleugnen musste.
    Ich lege mich ausgestreckt hin, hebe die Hände über den Kopf und bohre meine Finger in die Löcher des Netzes. Ich mache mich so lang wie möglich und vergrabe meine Fußspitzen im Netz. Die Nacht ist sternenlos und ruhig, und zum ersten Mal seit vier Tagen sind auch meine Gedanken ruhig.
    Ich stütze den Kopf in beide Hände und atme tief aus und ein. Die Simulation heute war die gleiche wie gestern. Jemand hielt mir die Waffe hin und befahl mir, meine Eltern zu erschießen. Als ich den Kopf hebe, bemerke ich, dass Four mich beobachtet.
    » Ich weiß, dass das, was man in den Simulationen erlebt, nicht die Wirklichkeit ist«, sage ich.
    » Das brauchst du mir nicht zu erklären«, erwidert er. » Du liebst deine Familie. Du willst sie nicht erschießen. Es gibt wahrhaftig Unvernünftigeres auf der Welt.«
    » Die Simulation ist die einzige Gelegenheit, bei der ich sie zu sehen bekomme.« Auch wenn er sagt, ich müsse es nicht, habe ich doch das Bedürfnis, ihm zu erklären, warum es mir so schwerfällt, mich dieser Angst zu stellen. Ich verschränke die Finger ineinander und lasse sie wieder los. Meine Fingernägel sind abgebissen– ich habe wieder im Schlaf an ihnen gekaut. Jeden Morgen wache ich auf und habe blutige Hände. » Sie fehlen mir. Hast du nie deine Familie vermisst?«
    Four senkt den Kopf. » Nein. Hab ich nicht. Aber das ist eher ungewöhnlich.«
    Ja, es ist ungewöhnlich, so ungewöhnlich, dass es die Erinnerung daran vertreibt, wie ich Caleb eine Waffe an die Brust drücke. Wie wohl seine Familie gewesen sein muss, dass sie ihm jetzt so völlig gleichgültig ist?
    Mit der Hand auf der Türklinke bleibe ich stehen und drehe mich zu ihm um.
    Bist du wie ich?, frage ich ihn stumm. Bist du ein Unbestimmter?
    Das Wort nur zu denken, erscheint mir schon gefährlich. Er weicht meinem Blick nicht aus, und während die Sekunden still verstreichen, schwindet die Härte in seinem

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