Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
meinen Mund. Sie riecht nach Seife, und sie ist so groß, dass sie die gesamte untere Hälfte meines Gesichts bedeckt. Ich versuche mich zu wehren, aber die Arme, die mich festhalten, sind zu stark. Ich beiße in einen der Finger, die auf meinem Mund liegen.
» Au!«, schreit eine raue Stimme auf.
» Halt die Klappe und drücke ihr den Mund zu.« Diese Stimme ist ungewöhnlich hoch und hell für einen Mann. Peter.
Jemand presst einen dunklen Stofffetzen an meine Augen und nimmt mir die Sicht, wieder andere Hände verknoten das Tuch an meinem Kopf. Ich habe Mühe zu atmen. Mindestens zwei Hände halten mich an den Armen fest, zerren mich nach oben, eine andere liegt auf meinem Rücken und drückt mich in dieselbe Richtung, eine vierte ist auf meinem Mund und hindert mich am Schreien. Drei Leute. Meine Brust tut weh. Gegen drei kann ich nicht viel ausrichten.
» Bin gespannt, wie es sich anhört, wenn eine Stiff um Gnade winselt«, sagt Peter glucksend. » Beeilt euch.«
Ich versuche, mich auf die Hand zu konzentrieren, die mir den Mund zuhält. Herauszufinden, zu wem die Hand gehört, ist das Problem, das ich lösen muss– und zwar jetzt, sofort, um zu verhindern, dass mich die Panik überrollt.
Die Hand ist weich und verschwitzt. Ich beiße die Zähne zusammen und atme durch die Nase. Der Seifengeruch kommt mir irgendwie vertraut vor. Zitronengras und Salbei. Der gleiche Duft umweht auch Als Bett. Mein Herz wird bleischwer.
Ich höre Wasser, das gegen Felsen brandet. Wir sind in der Nähe der Schlucht– der Lautstärke nach zu urteilen, sogar direkt darüber. Ich presse die Lippen zusammen, damit ich nicht schreie. Denn jetzt weiß ich, was sie mit mir vorhaben.
» Hebt sie hoch, kommt schon.«
Ich schlage um mich und ihre raue Haut kratzt auf meiner, aber ich weiß, es hat keinen Sinn. Ich schreie, aber ich weiß, mich hört niemand.
Ich werde den morgigen Tag erleben. Ich werde überleben.
Die Hände stoßen mich herum, heben mich hoch, mein Rücken stößt gegen etwas Hartes, Kaltes. Der Größe und Form nach ist es ein Eisengeländer. Es ist das Eisengeländer über der Schlucht. Mein Atem geht pfeifend, schon spüre ich die Gischt auf meinem Rücken. Die Hände schieben meinen Oberkörper über das Geländer und meine Füße verlieren den Kontakt zum Boden. Meine Angreifer sind das Einzige, was mich im Augenblick vor dem Sturz ins Wasser bewahrt.
Eine kräftige Hand begrapscht mich an der Brust. » Bist du sicher, dass du schon sechzehn bist, Stiff? Fühlt sich an, als wärst du höchstens zwölf.« Die anderen Jungs lachen.
Mir kommt es hoch und ich schlucke den bitteren Geschmack hinunter.
» Moment mal, ich glaube, ich habe etwas gefunden!« Seine Hand drückt meine Brust. Ich beiße mir auf die Zunge, damit ich nicht schreie. Noch mehr Gelächter.
Al nimmt die Hand von meinem Mund und zieht mich ein Stück vom Geländer zurück. » Hör auf damit«, fährt er den anderen an. Ich erkenne seine tiefe, unverwechselbare Stimme.
Kaum hat Al den Griff gelockert, da schlage ich blind in alle Richtungen und lasse mich nach unten gleiten. Diesmal beiße ich, so fest ich kann, in den erstbesten Arm, den ich zu fassen kriege. Ich höre einen Schmerzensschrei und beiße noch fester zu. Ich schmecke Blut. Jemand schlägt mir brutal ins Gesicht. Vielleicht würde ich sogar Schmerz verspüren, wenn nicht das Adrenalin wie Säure durch meine Adern schießen und meine Wut bis zur Weißglut steigern würde.
Der Junge entreißt mir seinen Arm und stößt mich zu Boden. Ich schlage mit dem Ellbogen auf den harten Stein, fasse aber sofort an meinen Kopf, um mir die Binde von den Augen zu reißen, doch bevor ich sie lösen kann, knallt ein Fuß mir in die Rippen. Ich japse stöhnend nach Luft und taste weiter meinen Hinterkopf ab. Jemand packt mich an den Haaren und schlägt meinen Kopf gegen etwas Hartes. Ich schreie auf vor Schmerz. Mir wird schwindelig.
Unbeholfen versuche ich, die Augenbinde aufzuknoten. Es gelingt mir nicht sofort, aber dann nehme ich sie ab. Ich blinzle. Das Bild vor mir verrutscht, es hüpft auf und ab, in meinem Kopf rauscht es. Ich sehe jemanden, der auf uns zurennt, und einen anderen, der von uns wegrennt, jemand, der so groß ist wie Al. Peter packt mich am Hals, sein Daumen bohrt sich unter mein Kinn. Seine Haare, sonst glänzend und weich, sind wirr und kleben auf der Stirn. Sein blasses Gesicht ist verzerrt, als er mich hochhebt. Er fletscht die Zähne vor Anstrengung, aber er
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