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Die Bestimmung

Die Bestimmung

Titel: Die Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Kellen
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Schlucken, wie erstaunlich schnell die Kräuter darin, welche ihr bitter in der Nase stachen, die Wogen ihres Magens wieder glätteten.
    «Jajaaa, der Suff», hatte er verschmitzt getönt, den Zeigefinger hochgehalten und Pater Skelling imitiert. Nilah hatte lachen müssen, auch wenn ihr Magen diese Bewegung nicht besonders schätzte.
    «Hör mal, Nili. Morrin fährt mit mir nach Clifden. Wir müssen zu einem Anwalt namens ... ähm», er schnippte mit den Fingern, «... vergessen. Egal. Es geht um Oma Eddas Testament. Ich bin zwar nicht erbberechtigt, aber ich bin eben Dein gesetzlicher Vormund. Wir werden da einige Formalitäten klären Ich muss sicher irgendwas unterschreiben und schwupps sind wir wieder hier.»
    Das waren ganz schön viele ‚ wir ‘ fand Nilah. Aber so war das nun einmal. Sie konnte es in seinen Augen sehen, in seinen Bewegungen. Ein Glänzen, das er einfach nicht verbergen konnte. Außerdem sah sie in dem Türspalt seine Tasche stehen. Dort war für gewöhnlich all jenes verstaut, auf das man irgendwie ein Objektiv schrauben konnte.
    «Ist schon gut, Paps», sagte sie deshalb. «Lasst Euch Zeit. Mach das klar da, bei diesem Anwalt, ich werde noch ein wenig hier liegen bleiben, brav den Tee trinken und nachher etwas frische Luft im Garten tanken.»
    Er sah sie an. Für einen Moment glaubte sie, ihre wirklichen Gedanken würden wie eine Leuchtreklame über ihr schweben. Dann aber beugte er sich vor und küsste sie auf die Stirn. Er stand auf und seine Knie knackten vertraut. An der Tür zwinkerte er Nilah zum Abschied vergnügt zu.
    Als es endlich ganz still im Haus war, stand sie auf, nahm ihre Stiefel, zog aus dem linken die Einlage heraus, die sie tragen musste, weil ihre Knöchel beim Laufen zu sehr nach innen kippten, vorsichtig nahm einen kleinen durchsichtigen Beutel heraus. Vier kleine weiße Pillen, von etwas Watte geschützt und auf dem Schulhof erworben, waren darin. Nilah holte tief Luft, danach schüttelte sie eine davon in ihre Hand. Da lag sie. Vielleicht etwas mehr als drei Millimeter groß, mit einem Schlitz zum Durchbrechen in der Mitte. Diazepam zehn Milligramm. Sie und die Pille beäugten sich gegenseitig – abwartend.
    Wieder schnaufte Nilah und zog die Nase hoch. Sie versuchte in ihren Körper zu horchen. War da eigentlich noch alles an seinem Platz? War sie noch sie selbst? Sie schaute auf dieses winzige Stück Chemie in ihrer Hand. Es war so federleicht, man fühlte nicht einmal, dass es da war. Wie konnte es da schlecht sein oder gar Schaden anrichten? Sie seufzte. Mein Herz , dachte sie, was macht mein Herz? Sie legte eine Hand auf ihre Brust. Es schlug. Regelmäßig und kräftig.
    Die Tablette lag auf ihrer Hand. Die Welt schrumpfte zusammen. Auf zehn Milligramm Flucht. Es war nie einfach gewesen. Das hier hatte sie ihm nie sagen können, wie auch? Aber es war ganz einfach, die Hand zum Mund zu führen und zu schlucken. Es tat nicht weh. Im Gegenteil. In einer halben Stunde würde ihr gar nichts mehr weh tun. All die Ängste und ihre manchmal hilflose Traurigkeit über die Welt würden in einen Turm gepfercht und wären zu entkräftet, um weiter an ihre Türen zu hämmern.
    Noch einmal holte sie tief Luft, ballte dann die Faust und sagte etwas, das nur sie hören konnte: Nein!
    Sie suchte ein paar warme Sachen heraus, zog sich an, ging aus der Tür, schlenderte durch den Garten, doch dann ging sie weiter. Diese Insel war schwermütig. Es schien, als sei sie in der Vergangenheit einmal schwer verwundet worden und hätte nie wirklich Heilung erfahren. Nilah wanderte Richtung Küste. Wenn sie etwas beruhigte, dann die Geräusche, die die Natur von sich gab. Das Tönen, Zischen und Schäumen eines Ozeans war wie ein unendliches wissendes Gesicht für sie. Ihm konnte sie alles anvertrauen und es würde niemals fragen, sondern nur verstehen.
    Der MP3-Player baumelte an ihrer Seite. Sie tippte sich durch die Songs, die sie für die Reise heruntergeladen hatte, bis sie endlich etwas Passendes fand. Die Filmmusik von Lang lebe Ned Devine . Und als sie über die Hügel und durch kleine Wälder ging und glaubte, mit jedem Schritt schon viel besser atmen zu können, als sie wieder diese Uilleann Pipes in ihren Ohren wehklagen hörte, da war sie froh, die Tablette nicht genommen zu haben.
    Sie war ganz allein! Endlich.
    Himmel , dachte sie. Ich schreite auf diesem alten Boden. Sie hockte sich hin und strich über das weiche Gras. Was mag unter meinen Füßen nur alles geschehen

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