Die Bettelprophetin
Wochen pflegen musste, bevor sie in derArbeitsstube anfangen konnte. Nein, so was.» Die Frau schüttelte den Kopf. «Ich hätt schwören können, dass du die Maria bist.»
Theres glitt langsam am Türpfosten zu Boden. Sie hörte noch, wie die alte Magd um Hilfe rief, sah über sich eine Vielzahl von Gesichtern, auch das der Schönfärberin, aus deren Mund sie es keifen hörte: «Kannst das Miststück gleich mitnehmen in dein Armenspital. Die hat hier nichts mehr verloren.»
Danach wurde ihr schwarz vor Augen.
16
Ravensburg, Sommer 1841 bis Winter 1841/1842
Den ganzen Mai und Juni verbrachte Theres im Heiliggeistspital, zunächst in der Krankenstube für alleinstehende Dienstboten, am Ende dann, als es ihr etwas besserging, im Schlafsaal, den sie sich mit fast dreißig anderen Frauen teilte.
Der Spitalhof umfasste ein weitläufiges Areal in einer Ecke der alten Stadtbefestigung, zwischen Untertor und Spitalturm. Neben dem uralten Hauptgebäude mit seiner Hauskapelle, die im Wechsel von den Katholischen und den Evangelischen genutzt wurde, gehörten noch eine Mühle, ein Kindshaus, mehrere Stallungen und ein kleineres Nebengebäude dazu, in dem die Verwaltung des Armenfonds untergebracht war. Alles war in reichlich verwahrlostem Zustand. Der Putz fiel in Placken von den Mauersteinen, Dachziegel fehlten, die meisten Fenster schlossen nicht mehr richtig, und so zog es auch im Frauenschlafsaal gewaltig.
Umso erstaunlicher war die kräftige Kost: Abwechselnd gab es mal Fleischsuppe mit Einlage, mal saure Spätzle mit Kartoffelmus oder Gemüse, dazu ausreichend frisches Brot. Amfleischlosen Freitag wurde Erbsensuppe mit gebratenen Spätzle und Kartoffeln gereicht, sonntags Braten mit Salat, Apfelmus oder Zwetschgen. Verglichen mit dem kargen Fraß, den es am Ende im Hause Schönfärber für sie gegeben hatte, fühlte sich Theres hier wie im Schlaraffenland.
Was ihr genau fehlte, hatte der Amtschirurg nicht feststellen können. Eine überaus schwächliche Konstitution mit ersten Anzeichen von Auszehrung hatte er ihr bei der ersten Visitation bescheinigt, mitsamt einer durch Schlag oder Sturz hervorgerufenen Erschütterung des Gehirns. Theres hütete sich, die Ursache ihrer Kopfverletzung zu verraten, und so wurde ihr anfangs strikte Bettruhe verordnet, bei Schonkost zunächst und ausreichender Flüssigkeit. Hernach werde man sie bei gutem Essen und leichten Handarbeiten in der städtischen Armenbeschäftigungsanstalt langsam aufbauen.
Ganz wie der freundliche Chirurg es prophezeit hatte, ging es ihr nach zwei Wochen spürbar besser. So fand Theres auch nichts dabei, für ihre Pflege und ihren Unterhalt zu arbeiten, kaum dass sie die erste Stunde auf den Beinen war.
«Mach langsam, Kind», warnte der Amtsarzt sie. «Nicht dass du einen Rückfall herausforderst.»
Der Spitalvater, der sie in die Arbeitsstube zum Strümpfestricken führte, zeigte sich weniger einfühlsam.
«Wer in der Not ein Almosen annimmt, soll dafür auch arbeiten», hatte er geschnauzt. «Bist uns lange genug krank auf der Tasche gelegen.»
Er schien Theres dafür verantwortlich zu machen, dass ihre Dienstherrin keinen Heller für sie entrichtet hatte. Ein paar Tage zuvor nämlich hatte der Spitalvater die Schönfärberin ins Spital gebeten, um die Frage der hohen Unkosten zu klären, und die hatte daraufhin mitten in der Eingangshalle so lautstark gezetert, dass es im ganzen Haus zu hören war: Jede Woche gebesie brav ihr Almosen an die Klingler und lege jedes Mal noch einen Heller drauf – von ihren wohltätigen Sammlungen mehrmals im Jahr ganz abgesehen. Darüber hinaus habe das undankbare Mädchen ohnehin gekündigt, am Tage vor ihrem Zusammenbruch. Daraufhin hatte man Theres aus der Krankenstube dazugeholt, barfuß und in ihrem schäbigen Krankenkittel.
«Ist es wahr, dass du gekündigt hast?», hatte der Spitalvater sie streng gefragt.
«Ja. Und jetzt möchte ich bitte meinen restlichen Lohn, Frau Schönfärber.»
«Hör ich recht? Was dir zusteht, liegt auf der Sparkasse.»
«Aber ein Viertel müssen Sie mir ausbezahlen!»
«Gar nichts muss ich. Wer weiß, was du uns außer Büchern noch alles gestohlen hast. Das werde ich wahrscheinlich erst wissen, wenn du aus der Stadt verschwunden bist. Hier hast du deine Sachen.» Die Schönfärberin schleuderte ihr ein Bündel vor die Füße.
Hoffentlich werde ich diese Frau nie wiedersehen, dachte Theres jetzt, als sie sich mit ihrem Wollknäuel neben einem Dutzend anderer Frauen auf
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