Die Bettelprophetin
stecken. Was die Alwina geschrieben hat, kann ich mir denken. Ich nehm dich, weil ich dringend jemanden brauch. Bin nämlich Witwer, und meine Magd ist erst neulich verstorben. Und meine Jüngste, die Einzige, die noch im Haus lebt, ist ein faules Stück. Also, was ist? Fängst morgen bei mir an?»
Theres nickte beklommen. Als der Spitalvater ihr einen Stoß in den Rücken gab, räusperte sie sich und sagte laut und vernehmlich: «Ja, Herr Wagnermeister. Sehr gerne.»
«Gut. Komm morgen Abend zu uns. Dann kannst dich vorher noch auf dem Liederfest vergnügen.»
Schon früh am nächsten Morgen war der Donner der Geschützsalven zu hören, mit denen vor den Stadttoren die eintreffenden Sangesgruppen begrüßt wurden. Theres musste, wie ein gutes Dutzend anderer Männer und Frauen auch, das Heilig-Geist-Spital verlassen, um Schlafraum frei zu machen für die vielen auswärtigen Gäste aus der Schweiz, aus Baden, Baiern und dem gesamten Oberschwaben. In der Eingangshalle fing Clara sie ab.
«Ich will dich nicht gehen lassen, ohne dir wenigstens Glück zu wünschen.»
«Danke!»
«Vertrau auf Gott und mach das Beste aus deinem Leben. Du wirst es schaffen, Theres, ich weiß das.»
Dann schloss die alte Frau sie fest in die Arme, und Theres überkam nun doch so etwas wie Rührung.
«Vielen Dank für alles, Clara. Dafür, dass Sie sich so eingesetzt haben.»
«Ach was. Die Leut sagen immer, ich misch mich in alles ein. Aber ich hab halt keine Kinder, keine Familie. Da such ich mir eben jemanden zum Kümmern. Warte, Theres, da ist noch was.»
«Ja?»
«Denk nicht schlecht über deine Mutter.»
Entsetzt starrte Theres sie an.
«Nun schau mich nicht so an. Deine Mutter war ein anständiger Mensch, das sollst einfach wissen.» Sie drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. «Und jetzt lauf, genieß den schönen Tag.»
Als sie hinaus auf die Bachgasse trat, steckte ihr der Schreck über Claras Worte noch in allen Knochen.
Von überall her dröhnten Trommelschläge, der schrille Klang von Sackpfeifen und Blasinstrumenten schmerzte ihr im Ohr. Um sie herum drängten und schoben sich die Leute in Richtung Rathaus. Am liebsten hätte sie sich im nächsten Kellerloch verkrochen, so verloren fühlte sie sich jetzt in der Menschenmasse.
Plötzlich rempelte jemand schmerzhaft gegen ihre Schulter, und Theres blieb nichts anderes übrig, als sich von dem Strom mitreißen zu lassen. Zwar hatte sie im Spital von diesem großen Ereignis reden hören, das in ähnlicher Weise bereits in vielen Orten rund um den Bodensee stattgefunden hatte, doch dass heute die ganze Stadt auf den Beinen war, hatte sie nicht erwartet.
Auf dem Platz vor dem Rathaus schlüpfte Theres in eineHofeinfahrt, wo sie ein Plätzchen zum Innehalten fand. Rathaus, Waaghaus und der mächtige Blaserturm waren festlich geschmückt und mit Beleuchtungskörpern versehen, auf einer kleinen Tribüne hatten sich die Honoratioren der Stadt versammelt, um den geladenen Liederkränzen ihre Referenz zu erweisen. An der Spitze des Festzuges, der sich durch die beflaggte Straße wälzte, marschierte die Ravensburger Bürgergarde. Drei Tambourmajore gaben den Takt vor, im Gleichschritt folgten die Gardisten in blauer Uniform, Leibriemen und schwarzem Tschako. Ganz zuvorderst entdeckte Theres den Wagnermeister Anton Senn, mit stolzgeschwellter Brust, das Stutzengewehr geschultert wie ein Soldat, der in den Krieg zieht.
Eine festlich gekleidete Sangestruppe folgte der nächsten, während oben vom Mehlsack Böllerschüsse krachten. Jeder Liederkranz trug seine Standarte vor sich her, mit Ortsnamen, von denen Theres noch nie gehört hatte. Das Ende des Zuges bildeten die Männer des Ravensburger Liederkranzes, darunter auch Konrad Schönfärber, alle in Frack und dunkler Hose, mit roten Bändern im Knopfloch.
Unwillkürlich suchte Theres’ Blick die Reihen der Zuschauer am Straßenrand nach bekannten Gesichtern ab. Die Schönfärberin war zum Glück nirgends zu sehen, und bis auf ein paar Frauen aus dem Spital und einige junge Leute aus ihrer Zeit im Waisenhaus kannte sie niemanden. Kein Wunder, war sie bei den Schönfärbers doch außer zum Einkauf und Kirchgang kaum hinausgekommen, kannte wenig mehr von Ravensburg als die Marktgasse und die Gegend um Liebfrauen.
Sie spürte, wie nun doch ein klein wenig Neugier in ihr aufstieg, und folgte der Menschenmenge in Richtung Stadttor.
«He, gib doch acht, du Trampel!»
Vor lauter Umherschauen war Theres der Frau vor ihr
Weitere Kostenlose Bücher