Die Beute
müssen rennen . Jodies eigene Stimme von vor achtzehn Jahren klang so laut und deutlich in ihrem Kopf, als hätte sie soeben gesprochen.
»Jodie? Hörst du mich? Du musst Hilfe holen.«
»Nein«, sie stieß ihn von sich. Schüsse krachten in ihrem Kopf. Sie zwang sich zu atmen und ihn dabei anzusehen.
Er sprach leise. »Ein Trampelpfad führt durch das Gebüsch. Sie können dich von der Scheune aus nicht sehen.«
Nein, nein. Dann müsste sie ihre Freundinnen zurücklassen. Sie hatte sich aber geschworen, nie wieder jemanden zurückzulassen. Grauen ergriff sie. Ihr Herz raste. Sie hörte es in ihren Ohren.
»Er führt direkt hinunter zu dem Haus an der Straße.«
Die Straße liegt gleich hinter den Bäumen. Ich schaffe das in einer Minute. Halte jemanden an. Hole Hilfe .
Himmel. Sie kniff die Augen zusammen. Sie atmete so schwer, als würde sie schon rennen. Durch die Dunkelheit. Durch die Bäume. So schnell sie konnte. Doch es war nicht weit genug. Niemals weit genug. »Nein, nein. Ich kann nicht.«
»Du kannst das sehr wohl. Lauf einfach zum Haus hinunter, und ruf die Cops. Sag ihnen, dass bewaffnete Männer Geiseln genommen haben. Dann warte, bis sie kommen, und zeige ihnen die Auffahrt.« Er nahm ihr Kinn und hob ihren Kopf. »Jodie, du schaffst das. Das weiß ich.«
Sie schüttelte den Kopf. Es rauschte. Wieder sah sie alles vor sich. Die blutende Louise, die weinende Corrine, Hannah, steif vor Schreck, Angies Augen in der Dunkelheit, ein junges Mädchen in einem roten Mantel, Gruben in der Erde. Die Bilder wirbelten umher, prallten aufeinander. »Nein. Ich lasse sie nicht zurück«, sie schob seine Hand weg. »Geh du doch. Hol du sie.«
»Jodie.«
»Ich muss bei Angie bleiben.«
32
Jodie legte die Hand an den Kopf. Jetzt nicht durchdrehen. »Nein, nein, nicht Angie. Für Angie ist es zu spät. Ich … Ich …«
»Großer Gott«, langsam dämmerte es Matt. Er lehnte sich zurück und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Okay, Jodie. In Ordnung.« Er zögerte und atmete tief durch. »Hör zu, ich weiß, dass du irgendwas Furchtbares durchgemacht hast. Ich habe die Narben gesehen. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, ich weiß nur, dass es schrecklich gewesen sein muss und du jetzt Angst hast. Und ich wünschte wirklich, das alles würde gerade nicht passieren. Aber ich kann es nicht ändern. Bitte hör mir zu.« Er streckte seinen Arm aus und legte seine Hand auf ihren Arm. Dann nahm er vorsichtig ihre Hand.
Er glaubte, dass sie das brauchte, weil sie verängstigt war und beruhigt werden musste, damit sie sich draußen im Gebüsch sicher fühlte. Doch da irrte er sich. Er hatte Narben gesehen, aber nur die auf ihrer Haut. Er dachte, sie hätte Angst, dass ihr irgendjemand wieder ein Messer in den Bauch rammen könnte. Doch das war es nicht. Dieser Gedanke zählte nicht mal.
»Hörst du mir zu?«, fragte er.
Jodie sah weg. Er versuchte sie zu überzeugen. Aber sie wollte nicht überzeugt werden.
»Deine Freundinnen brauchen Hilfe, die Cops müssen sie rausholen. Ich bin nutzlos. Ich kann das nicht machen. Ich würde es mit diesem Knie nie runter zur Straße schaffen. Du musst gehen. Es gibt keine andere Lösung.«
Kalter Schweiß stand Jodie im Gesicht, sie bekam kaum Luft. Sie sah zur Scheune hinauf. Tränen traten ihr in die Augen.
Lauf, Jodie, bevor sie zurückkommen .
O mein Gott, Gott, Gott. Sie hatte es Angie geschworen. Sie hatte geschworen, dass sie nie wieder eine Freundin zurücklassen würde. Und nun verlangte Matt das von ihr.
Ihr schwindelte. Sie wäre am liebsten aufgesprungen, wie ein Todesengel durch die Büsche zum Haus im Tal gestürmt und hätte die Polizei gerufen, die dann mit quietschenden Reifen, unzähligen Streifenwagen, Sirenen und Blinklicht herangerast wäre, um ihre Freundinnen zu retten. Genau wie Matt gesagt hatte.
Doch sie hörte auch ihre eigene Stimme. Die Straße ist gleich hinter den Bäumen. Ich schaffe das in weniger als einer Minute. Halte jemanden an. Hole Hilfe. Entschieden schüttelte sie den Kopf und versuchte die Erinnerungen abzuschütteln, die sie wie ein Messer durchbohrten. Das Messer hatte Angies Hals durchtrennt, als Jodie vor achtzehn Jahren losgelaufen war.
»Jodie, du schaffst das. Du bist schnell. Ich habe dich gesehen. In zehn Minuten kannst du unten sein. Maximal zwölf. Denk nicht darüber nach. Renn einfach.« Er nahm ihre Hand und sorgte dafür, dass sie ihn ansah. »Jodie, lauf einfach los.«
Sie ging in die Hocke,
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