Die Beute
hörte erneut die Worte in ihrem Kopf und hatte das Gefühl, ein Hypnotiseur hätte mit den Fingern geschnipst. Einen Augenblick noch drehte sich alles in ihrem Kopf. Dann herrschte Stille.
Es war nicht der Schock, sie war auch nicht schwerhörig. Es war einfach nur kühle, ruhige Stille. Matt hatte das ausgesprochen, wovor sie sich am meisten fürchtete – lauf, Jodie –, und plötzlich sah sie klar. Er hatte ihr einen großen Gefallen getan. Sie fühlte sich besser als am Freitagabend, als sie von der Straße abgekommen waren. Sie hatte das Gefühl, über ihre Angst hinausgewachsen zu sein und sich wieder gefunden zu haben. Sie atmete die kalte Nachtluft ein und spürte, wie ein Entschluss in ihr heranreifte.
»Ich lasse meine Freundinnen nicht zurück. Ich bleibe hier, wir werden einen anderen Weg finden, um sie zu befreien.«
Matt war wütend. Er bewunderte sie, war aber gleichzeitig stinksauer. »Herrgott, Jodie. Nein. Du musst gehen. Du kannst nicht einfach hierbleiben.«
Er beobachtete, wie sie sich offensichtlich durch schmerzhafte Erinnerungen quälte. Er hatte gedacht, dass die Erlebnisse, die ihr solche Wunden zugefügt hatten, sie veranlassen würden, sich so schnell wie möglich abzusetzen – womit gleichzeitig eine Geisel gerettet wäre. Doch sie wollte bleiben. Ihr unerschütterlicher Mut hing wie ein Mühlstein um seinen Hals.
Die beiden erstarrten, als erneut Schritte auf der Veranda zu hören waren. Zuerst nur von einem, dann waren es zwei. Die Brüder.
»Wiseman! Du Hühnerscheiße«, schrie Kane. »Komm raus, dann erlöse ich dich aus deinem Elend.«
Sein schrilles Lachen wurde plötzlich von Travis’ Worten übertönt. »Fick dich, Wiseman.«
Matt wandte sich Jodie zu. Kane und Travis standen kurz davor, die Geduld zu verlieren, und wenn es so weit war, wollte er Jodie außer Reichweite haben.
»Verschwinde endlich«, zischte er. »Lass mich wenigstens eine von euch hier lebend rausbringen.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Wir werden alle rauskommen.«
»Nein, werden wir nicht.« Er sagte das mit voller Überzeugung, um ihr richtig Angst einzujagen.
Sie schlug ihn fest gegen die Brust. »Du Scheißkerl! Du hast sie bereits aufgegeben.«
Ihr Blick glühte vor Zorn. Sie würde nicht ins Tal laufen, das erkannte er jetzt. Trotzig und stur stand sie wie angewurzelt vor ihm. Und nun lagen wieder vier Leben in seiner Hand.
»Scheiße, Scheiße«, stieß er in der Dunkelheit aus. Er trat wütend nach der Erde. Am liebsten wollte er aufstehen und herumgehen, irgendetwas werfen, doch das war unmöglich, denn Kane und Travis warteten auf der Terrasse nur darauf, einen Kopf zu sehen und darauf zu schießen. Er trug schließlich die Verantwortung für vier Leben.
Jodie sagte nichts. Was sollte sie schon sagen? Der Kerl, von dem sie geglaubt hatte, dass er ihre Freundinnen retten würde, scheiterte kläglich. Sie hatte ihn für einen verdammten Helden gehalten. Hatte ihm blind vertraut. Ahnte nicht, dass er vermutlich der Grund für ihre Ermordung sein würde.
»Hey, Schlampe. Ich schlag dir ’nen Deal vor.« Das war Travis. »Komm rauf, dann lass ich deine verletzte Freundin laufen. Sie sieht ziemlich schlecht aus. Glaube kaum, dass sie noch lange durchhält. Also komm besser rauf.«
Jodie nahm die Startposition einer Sprinterin ein. Matt sah sie an, und plötzlich wurde er unendlich traurig. Denn in seinen Gedanken sah er sie vor sich, wie sie ein Steak für ihn briet, das er dann verzehrte. Er sah sie nackt, an ihn geschmiegt, und sie sah ihn mit ihren wunderbaren Augen an. Er wollte Teil dieses Bildes sein. Doch er hatte keine Waffe, konnte kaum laufen und hatte die letzten sechs Monate alles vermieden, was irgendwie nach Polizei aussah. Nur sein Instinkt war ihm geblieben, um Jodies Leben und das ihrer Freundinnen zu retten.
Sein verdammter Instinkt!
»Hör zu«, flüsterte Matt. Sie musste es wissen. »Ich habe deine Freundinnen nicht aufgegeben. Aber ich bin nicht der, für den du mich hältst. Durch meine Schuld sind Menschen ums Leben gekommen. Ich will nicht auch noch dein Blut an meinen Händen kleben haben. Dein Überleben ist mir wichtig. Du hast schon mehr getan, als irgendjemand sonst tun würde. Du hast mir das Leben gerettet. Das werde ich nicht vergessen. Und nun verschwinde endlich, bitte.«
»Herrgott, Matt, halt die Schnauze.« Sie sah ihn finster an. »Die Polizei braucht eine halbe Stunde, bis sie hier ist, im günstigsten Fall. Bis dahin sind meine
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