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Die Beute - 2

Die Beute - 2

Titel: Die Beute - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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er sich in so maßlosen und beunruhigenden Späßen.
    Sie lachte, jedoch mit einem unklaren Erschrecken, als sie sah, wie sich der kleine Mann über dem Riesen zu seinen Füßen hoch aufrichtete, ihm die Faust zeigte und dabei spöttisch die Lippen verkniff.
    »Der Anfang ist schon gemacht«, fuhr er fort. »Aber das ist noch nichts. Sieh mal dort unten, bei den Markthallen, da hat man Paris in vier Teile zerschnitten …«
    Und er fuhr mit der weit ausgestreckten Hand, die wie ein bloßes, scharfes Messer wirkte, durch die Luft, als schneide er Paris in vier Teile.
    »Du meinst die Rue de Rivoli und den neuen Boulevard, den man jetzt anlegt?« fragte seine Frau.
    »Ja, ›das große Fenster von Paris‹, wie sie es nennen. Der Louvre und das Hôtel de Ville sollen freigelegt werden. Aber das ist ein Kinderspiel, geeignet, dem Publikum Appetit zu machen … Sobald das erste Straßennetz fertig ist, beginnt erst der große Tanz. Das zweite wird die Stadt nach allen Richtungen hin durchbrechen, um die Vorstädte mit dem ersten Netz zu verbinden. Alles, was noch stehenbleibt, wird in Schutt und Staub ersticken … Sieh, folge meiner Hand: vom Boulevard du Temple bis zur Barrière du Trône der erste Schnitt; sodann, auf dieser Seite, ein zweiter, von der Madeleine bis zum Parc Monceau; ein dritter in dieser Richtung, ein vierter in jener, ein Schnitt hier, einer weiter entfernt, überall Schnitte, ganz Paris von Säbelhieben zerhackt, mit offenen Adern, Nahrung spendend für hunderttausend Erdarbeiter und Maurer, von herrlichen strategischen Straßen durchzogen, die die Forts mit dem Kern der alten Stadtviertel verbinden werden.«
    Es wurde Nacht. Immer noch durchschnitt seine magere, nervige Hand die Leere.
    Angèle befiel ein leichter Schauder angesichts dieses lebenden Messers, dieser eisernen Finger, die erbarmungslos die unendliche Menge der dunklen Dächer zerhackten. Seit wenigen Sekunden sanken leise die Nebel, die den Horizont verschleierten, an den Hängen herab, und Angèle glaubte, unter den Schatten, die sich in der Tiefe häuften, ein fernes Krachen zu vernehmen, als hätte die Hand ihres Gatten die Schnitte, von denen er sprach, wirklich vollzogen und damit Paris von einem Ende zum andern gespalten, die Balken zerbrochen, die Steine zermalmt und lange, entsetzliche Wunden zusammenstürzender Mauern hinterlassen. Diese so kleine Hand, die gierig nach einer Riesenbeute griff, wurde denn doch beunruhigend, und während sie mühelos die Eingeweide der Riesenstadt zerriß, war es, als nähme sie in der bläulichen Dämmerung einen merkwürdigen Stahlglanz an.
    »Es wird hier noch ein drittes Straßennetz entstehen«, fuhr Saccard nach einer Pause, wie im Selbstgespräch fort: »das ist aber zu weit entfernt, ich sehe es nicht so deutlich. Ich habe nur geringe Anzeichen dafür gefunden … Aber das wird dann der reine Wahnsinn sein, der Teufelsgalopp der Millionen, Rausch und Totschlag von Paris!«
    Abermals schwieg er; den brennenden Blick fest auf die Stadt gerichtet, in der sich die Schatten immer mehr verdichteten, versuchte er wohl, die ferne Zukunft zu erforschen, die sich ihm noch entzog. Dann wurde es dunkel; die Stadt verschwamm, man hörte sie tief atmen wie ein Meer, von dem man nur noch die bleichen Wogenkämme sieht. Hier und dort schimmerten noch weißliche Mauerstücke, und in der Dunkelheit blinkten die gelben Gasflammen eine nach der anderen auf, Sternen gleich, die nach, und nach an einem schwarzen Gewitterhimmel aufleuchten.
    Angèle schüttelte ihr Unbehagen ab und kam auf den Scherz zurück, den ihr Mann beim Dessert gemacht hatte.
    »O ja«, sagte sie lächelnd, »es hat tüchtig Zwanzigfrancsstücke geregnet! Jetzt sind die Pariser beim Zählen! Sieh dir doch die schönen Geldhaufen an, die man zu unseren Füßen aneinanderreiht!«
    Sie wies auf die Straßen, die dem Montmartre gegenüber abwärts führten und deren Gasflammen tatsächlich ihre goldenen Flecken in zwei Reihen aufzuschichten schienen.
    »Und da unten«, rief sie und zeigte mit dem Finger auf ein ganzes Sterngewimmel, »das da unten ist sicher die Hauptkasse!«
    Dieser Einfall brachte Saccard zum Lachen. Sie blieben noch ein Weilchen am Fenster stehen, entzückt von diesem Geriesel von »Zwanzigfrancsstücken«, das schließlich ganz Paris in Helligkeit tauchte. Als sie dann vom Montmartre hinabgingen, bereute der Straßenbauinspektor zweifellos seine Redseligkeit. Er gab dem Burgunder die Schuld und bat seine Frau, die

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