Die Beute - 2
Schauspielern, Schriftstellern, Abgeordneten, die, man weiß nicht wie, in diese Sammlung geraten waren. Eine seltsam zusammengewürfelte Welt, das Abbild des wirren Durcheinanders von Ideen und Menschen, die das Leben Renées und Maximes kreuzten. Wenn es regnete, wenn man sich langweilte, bot das Album einen großartigen Gesprächsstoff. Stets kam es einem in die Hand. Gähnend schlug die junge Frau es auf, vielleicht schon zum hundertsten Male. Dann aber erwachte das Interesse, und der junge Mann stützte sich auf die Rücklehne ihres Stuhles. Nun gab es lange Debatten über die Haare des »Krebses«, das Doppelkinn der Baronin Meinhold, die Augen von Frau de Lauwerens, den Busen der Blanche Muller, die etwas schiefe Nase der Marquise, den wegen seiner zu vollen Lippen gepriesenen Mund der kleinen Sylvia. Sie verglichen diese Frauen miteinander.
»Wenn ich ein Mann wäre, würde ich Adeline wählen«, meinte Renée.
»Weil du Sylvia nicht kennst«, antwortete Maxime. »Sie ist so drollig! Mir ist Sylvia lieber.«
Man blätterte weiter. Manchmal kam der Herzog de Rozan zum Vorschein oder Herr Simpson, oder der Graf de Chibray, dann fügte Maxime lachend hinzu: »Übrigens hast du einen perversen Geschmack, das ist ja bekannt … Gibt es etwas Alberneres als die Gesichter dieser Herren? Rozan und Chibray sehen genauso aus wie Gustave, mein Perückenmacher.«
Renée zuckte mit den Achseln, als wolle sie sagen, daß sie sich von seiner Ironie nicht getroffen fühle. Sie war immer noch in den Anblick der bleichen, teils lächelnden, teils mürrischen Gesichter im Album versunken. Besonders lange verweilte sie bei den Dirnenbildern, studierte neugierig die deutlichen, kleinsten Einzelheiten der Photographien, die Fältchen, die winzigen Härchen. Eines Tages ließ sie sich sogar eine starke Lupe bringen, weil sie glaubte, auf der Nase des »Krebses« ein Haar wahrgenommen zu haben. Und wirklich, die Lupe zeigte ein zartes Goldfädchen, das sich von den Wimpern bis mitten auf die Nase verirrt hatte. Dieses Haar machte den beiden lange Zeit Spaß. Während einer ganzen Woche mußten sich sämtliche Besucherinnen mit eigenen Augen vom Vorhandensein dieses Härchens überzeugen. Von jetzt an diente die Lupe dazu, alle Frauengesichter genauestens zu untersuchen. Dabei machte Renée erstaunliche Entdeckungen; sie fand ihr bisher unbekannte Fältchen, rauhe Haut, vom Reispuder schlecht verdeckte Unebenheiten. Und schließlich versteckte Maxime die Lupe und erklärte, man dürfe sich das menschliche Gesicht nicht auf diese Weise verekeln. In Wahrheit ärgerte es ihn, daß Renée die dicken Lippen seiner geliebten Sylvia einer allzu strengen Prüfung unterzog. Nun erfanden sie ein neues Spiel. Sie stellten die Frage: »Mit wem möchte ich gern eine Nacht verbringen?« und schlugen dann das Album auf, das die Antwort zu geben hatte. Das Spiel bot Anlaß zu sehr ergötzlichen Kombinationen. Mehrere Abende nahmen auch die Freundinnen an diesem Spiel teil. So wurde Renée der Reihe nach mit dem Erzbischof von Paris, dem Baron Gouraud, Herrn de Chibray verkuppelt, worüber viel gelacht wurde, und auch mit ihrem eigenen Gatten, worüber sie tief betrübt war. Maxime, mochte es nun Zufall sein oder eine Bosheit Renées, die das Album aufschlug, geriet immer wieder an die Marquise. Niemals aber wurde so viel gelacht, wie wenn das Los zwei Männer oder zwei Frauen zu einem Paar vereinte.
Die Kameradschaft zwischen Renée und Maxime ging so weit, daß sie ihm von ihrem Liebeskummer erzählte. Er tröstete sie, gab ihr Ratschläge. Sein Vater schien gar nicht vorhanden zu sein. Später verfielen sie darauf, einander vertrauliche Dinge aus ihrer Jugend mitzuteilen. Besonders während ihrer Spazierfahrten im Bois de Boulogne verspürten sie ein unklares Verlangen, einen Drang, heikle Dinge zu berühren, über die man nicht zu sprechen pflegt. Das Glück, das Kinder empfinden, wenn sie flüsternd von Verbotenem reden, die Lockung, die für einen jungen Mann und eine junge Frau darin liegt, mit nichts als Worten gemeinsam in die Sünde hinabzusteigen, brachten sie immer wieder auf zweideutige Themen. Sie genossen dabei eine tiefe Wollust, die sie sich nicht zum Vorwurf machten, sondern, lässig in die Ecken ihres Wagens gelehnt, auskosteten wie zwei Kameraden, die ihrer ersten Eskapaden gedenken. Zuletzt prahlten sie geradezu mit Unsittlichkeiten: Renée gestand, die kleinen Mädchen im Pensionat seien sehr unanständig gewesen. Maxime
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