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Die Beutefrau

Die Beutefrau

Titel: Die Beutefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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abgesehen, verspürte Karl auch nicht den geringsten Wunsch, etwa durch eine Kaiserkrönung in Rom die Frau auf dem Kaiserthron im nicht allzu fernen Byzanz zu verärgern. Krönte er sich in ein paar Jahren in Aachen selbst, wäre deutlich, daß er sich als Kaiser der westlichen Christenheit verstand. Dem Papst stand dabei allerdings eine wesentliche Rolle zu: diesen Kaiser in aller Form anzuerkennen.
    Im Herbst wurden Vorbereitungen zur Abreise des Papstes aus Paderborn getroffen. Der Heilige Vater erklärte sich geehrt, daß ihm Karl höchstselbst bis nach Prüm das Geleit geben wolle. Er freue sich darauf, dort die berühmte Goldene Kirche der Hausabtei des Königshofs zu weihen, in der eine so unschätzbare Reliquie wie die Sandale Jesu aufbewahrt wurde.
    Danach sollte der Pontifex von Erzbischof Hildebold von Köln und dem unbeugsamen Schwarzen Arn, dem Erzbischof von Salzburg, nach Rom gebracht werden, wo eine Untersuchung der Vorwürfe erfolgen würde.
    Leo konnte nicht ahnen, daß Karl einen weiteren Grund hatte, Prüm aufzusuchen: Er wollte Gerswind und Hruodhaid dort einsammeln und mit an den Hof zurücknehmen. Von Vater Assuerus hatte er erfahren, daß sich seine Tochter, von Stummheit geschlagen, auf den Weg zum Papst gemacht, durch diesen in Trier Heilung erlangt und sich dann Gerswind und Pippin angeschlossen hatte und nach Prüm gekommen war.
    Das klang alles sehr unwahrscheinlich. In einem Brief verlangte Karl von Gerswind Aufschluß. Ihre Antwort war kühl und nichtssagend. Hruodhaid sei in Sicherheit und wohlauf, derzeit allerdings nicht in der Lage, mit dem Königshof in Verbindung zu treten.
    »Ich möchte ihn nicht sehen! Nie wieder!« jammerte Hruodhaid, als Gerswind sie behutsam darauf vorbereitete, daß Karl den Papst nach Prüm begleiten und in wenigen Tagen eintreffen würde. Die Sorge um Hruodhaid und die gewaltige Last, die deren Seele beschwerte, lenkte Gerswind von ihrem eigenen Kummer ab. Sie hatte nämlich festgestellt, daß sie die Trennung auf seltsame Weise noch enger an Karl geschmiedet hatte. Es verging keine Stunde, in der sie nicht seiner gedachte, keine Nacht, in der sie nicht von ihm träumte, und kein Tag, an dem sie sich nicht nach seiner Berührung sehnte.
    Hruodhaids Offenbarung hatte sie zutiefst erschüttert. Zunächst hatte sie noch auf ein Mißverständnis gehofft. Vielleicht hatte das Mädchen ja voreilige Schlußfolgerungen gezogen! Doch als ihr die Freundin später den genauen Wortlaut des Gehörten verriet, war auch die Gnade des Zweifels dahin.
    Es bestürzte Gerswind, daß Karls Sinnenfreude nicht einmal vor der eigenen Schwester haltgemacht und daß diese sich darauf auch eingelassen hatte. Solange Gerswind zurückdenken konnte, hatte Karl die edle Äbtissin von Chelles allen Frauen und Mädchen des Hofs als leuchtendes Vorbild vorgehalten. Ihre Gelehrsamkeit, ihre schnelle Auffassungsgabe, die Klarheit ihrer Gedanken, ihre wissenschaftlichen Werke, ihre Geschicklichkeit, ihr Fleiß, ihre unnachahmlich schöne Schrift … Aber wenn Gerswind es recht bedachte, von ihrer Tugend hatte der König dabei nie gesprochen. Das war überhaupt ein Wort, das er am Hof selten, dafür in seinen Erlassen ans Volk unentwegt gebrauchte.
    Gerswind sah auch sehr bald ein, daß es sinnlos war, Hruodhaid in ihrer Ablehnung den Eltern gegenüber zu bestätigen. Statt dessen mühte sie sich, die Freundin in langen Gesprächen zu beruhigen und eine Erklärung für das unfaßliche Vorgehen des Vaters zu finden, wobei sie hoffte, auch selbst eine Rechtfertigung entdecken zu können.
    Mehr denn je schämte sie sich dafür, daß ihr bei den Gedanken an Karls Zärtlichkeiten noch immer ein wohliger Schauer über den Rücken lief. Verabscheuen sollte sie das Ungeheuer, das die eigene Schwester geschändet hatte! Doch sosehr sie sich auch mühte – sie konnte es einfach nicht.
    Die beiden Mädchen suchten in der Bibel und in Büchern der Antike nach Beispielen für Blutschande. Hruodhaid verzog das Gesicht, als ihr Gerswind im Alten Testament die Stelle zeigte, an der Lots Töchter mit ihrem betrunkenen Vater schliefen. In der Geschichte von Ödipus sah sie keinen Bezug, da dieser ja unwissentlich die eigene Mutter geheiratet hatte. Teles hatte Gerswind erzählt, daß die griechische Erdgöttin Gaia ihrem Sohn Uranus beigewohnt hatte und deren Kinder, das Geschwisterpaar Kronos und Rhea, als miteinander verheiratet galten. Auch die Antigone von Sophokles handelte von Geschwisterliebe. Der

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