Die Beutefrau
sich Karl vor.
Aus den Augenwinkeln musterte er Ludwig, der gerade mit einer gespreizten Geste den Becher an die Lippen hob.
Gott sei Dank ist Ludwig der Jüngste! Der Gedanke war unerträglich, daß dieser Mann, dem man schon allzuoft während des Feldzugs das Kommando hatte entziehen müssen, jemals eine wirklich wichtige Rolle im Reich ausfüllen müßte. Bei der Vorstellung, daß der zwar fromme und gehorsame, aber in keinerlei Hinsicht begabte Ludwig mehr als nur sein Aquitanien beherrschen könnte, fuhr Karl ein Schauer über den Rücken. Er liebte ihn wie alle seine Kinder, aber die Eigenschaft, bei anderen Stärken und Schwächen richtig einzuschätzen, ließ ihn auch bei den eigenen Kindern nicht im Stich. Das Reich würde unter Ludwigs alleiniger Herrschaft gewiß zerfallen, denn diesem Sohn fehlten Festigkeit, Weitblick und Charakterstärke, um all jenes zusammenzuhalten, was Urgroßvater Karl Martell, Großvater Pippin und Vater Karl aufgebaut hatten.
Karl war dankbar, daß seine eigene Mutter Bertrada nicht miterlebt hatte, wie einer ihrer Enkel vor einem scheuenden Pferd heulend davongelaufen war! Wahrscheinlich hätte sie ihn gezwungen, sich auf dieses Pferd zu setzen, und wahrscheinlich hätte Karl auch genau das tun sollen. Aber Härte war sein tägliches Geschäft, und er brachte es nicht über sich, sie durchgehend auch auf seine Kinder anzuwenden. Was ein Fehler war, wie Alkuin ihn ständig ermahnt hatte.
Er spuckte die letzten zähen Fasern des Auerochsen aus, der sich im Mund als fast genauso widerstandsfähig wie bei der Jagd erwiesen hatte, und bemerkte in die Runde: »Wißt ihr übrigens, was ein arabischer Besucher neulich über mich gesagt hat?«
Kopfschütteln.
»Er sagte: ›Bisher kannte ich nur Menschen aus Erde, jetzt kenne ich einen aus Erz.‹ Was er wohl damit gemeint hat?«
»In der Kunst der Schmeichelei sind die Araber unübertroffen«, bemerkte Alkuin, der sich als einziger eine solche Bemerkung erlauben durfte. »Und da du schon von diesem Volk sprichst: Was hörst du von deinen Gesandten und dem Juden Isaak, die du zu dem uns sehr gewogenen Kalifen Harun al-Raschid geschickt hast?«
»Nichts«, antwortete der König. »Überhaupt nichts. Es wird ihnen etwas zugestoßen sein. Anders läßt sich das nicht erklären.«
Als Alkuin nach dem Essen unter großem Beifall ein neues Ratespiel vorschlug, setzte sich Pippin neben Gerswind und ernannte sie zu seiner Mitspielerin für die Abendunterhaltung. Gerswind erhob sich jedoch und bat höflich darum, sich entfernen zu dürfen, da sie sehr ermüdet sei. Mit gleicher Begründung hatten sich Ludwig und seine Gemahlin Irmingard schon etwas früher zurückgezogen. Noch im Hinausgehen hörte sie Alkuin fragen: »Der Sohn eines Mannes freit eine Witwe, sein Vater ihre Tochter – wie sind die Kinder aus diesen Ehen miteinander verwandt?«
Gerswind erklomm die steile Stiege zu dem Gemach, das sie sich mit Hruodhaid teilte. Sie war keinesfalls müde, hatte nur Furcht davor, sich der Zärtlichkeiten erwehren zu müssen, die ihr Pippin unter dem Deckmantel des Spiels zweifellos hätte zukommen lassen. Alkuins Anwesenheit würde verhindern, daß die Abendunterhaltung heute in einem Bacchanal gipfelte, bei dem das Spiel mit Brett, Karten, Kostümen, Gebärden oder Worten dem Tanz der Sinnenlust untergeordnet war und sich schließlich nur noch spärlich bekleidete Menschen aneinander erfreuten. Über Küsse und Berührungen würde der Abt von Tours jedoch hinwegsehen. Gerswind jedenfalls konnte die begehrlichen Blicke Pippins nicht ertragen.
Unwillkürlich mußte sie an Ludwigs schändliche Tat bei der Jagd denken. Sie hielt inne, um den Brechreiz zu bezwingen, der bei diesem Gedanken immer in ihr aufstieg. König Karl hatte seine Absichten ihr gegenüber ebenfalls recht deutlich gemacht, aber im Gegensatz zu seinem jüngsten Sohn hatte er seinen Trieb bezwungen oder bei anderen ausgelebt. Die neuste Favoritin hieß Regina, eine Grafentochter, die ebenfalls die Hofschule besuchte und vor Stolz auf ihre Stellung als königliche Beischläferin fast platzte.
Das einzige Mitglied der Königsfamilie, dem Gerswind gern nähergekommen wäre, hatte sich nach jenem fürchterlichen Jagdgeschehen von ihr abgewandt. Wenn Carolino tatsächlich etwas mitbekommen hatte, konnte er doch nicht wirklich glauben, daß ihr etwas an Ludwig lag! Sie hatte nie Zweifel daran gelassen, daß sie den König von Aquitanien verabscheute! Carolino konnte doch auch
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