Die Bibliothek der Schatten Roman
herumschlenderten, ohne etwas ausleihen zu wollen. Außer dem 40-Jährigen entdeckte sie ein Paar Mitte 30, das am Ende eines Regals leise diskutierte, einen Teenager am Comicregal und einen asiatisch aussehenden Mann in der Sachbuchabteilung. Keiner von ihnen konzentrierte sich auf die Bücher, die sie in den Händen hielten, sondern viel mehr auf ihre Umgebung.
Kurz vor Ende der Öffnungszeit machte die Bibliothekarin eine Runde durch die Bibliothek und teilte den Besuchern mit, dass dies die letzte Gelegenheit sei, noch etwas auszuleihen. Keine der Personen, die Katherina aufgefallen waren, reagierte, während die anderen Besucher Richtung Schalter gingen. Katherina schlenderte langsam zurück zum Zeitschriftenraum und bemerkte, dass auch die anderen Menschen diesen Weg einschlugen.
Jon befand sich bereits im Glaskäfig. Er ging langsam an der Wand entlang und tat so, als interessierte er sich für einige Sportfischer-Journale. Katherina unterdrückte den Drang, auszuloten, worum seine Gedanken tatsächlich kreisten.
Die Bibliothekarin hatte inzwischen den letzten Besucher zum Ausgang begleitet und schloss die Eingangstür ab.
»Dann können wir anfangen«, erklärte sie laut und schaltete das Licht in den der Straße zugewandten Räumen aus.
Nach und nach tauchten die übrigen Teilnehmer zwischen den Regalen oder aus den Leseecken auf. Sie nickten einander kurz und vertraut zu und begaben sich Richtung Glaskäfig. Dort setzten sie sich an den Tisch und begannen, über alles Mögliche zu reden. Die Bibliothekarin kam als Letzte, doch als sie die Tür schließen wollte, hörten sie ein lautes Klopfen vom Eingang.
»Einen Augenblick«, entschuldigte sie sich und verschwand. Die Gespräche verstummten, und alle lauschten, wie sie sich entfernte und dann an der Tür hantierte. Ein kurzer Wortwechsel war zu hören, dann wurde die Tür wieder geschlossen. Kurz darauf näherten sich Schritte.
»Uff, gerade noch geschafft, was?«, sagte Paw, als er mit rotem Kopf und keuchendem Atem ins Zimmer trat.
Die Bibliothekarin schloss leise die Tür, und die beiden setzten sich. Nun richteten alle ihre Aufmerksamkeit auf den Mann im Rollstuhl.
»Willkommen«, begrüßte sie Kortmann. Die Anwesenden erwiderten seinen Gruß murmelnd. »Ich freue mich, dass so viele von euch so kurzfristig kommen konnten. Es ist nicht ganz ohne Risiko, sich in diesen Zeiten so zu treffen, aber die Geschehnisse der letzten Tage zwingen uns dazu.« Die Anwesenden sahen ernst aus.
»Gestern Abend wurde das Libri di Luca angegriffen. Jemand hat Molotowcocktails auf den Laden geschleudert, der stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Iversen musste mit Verbrennungen und einem Schock ins Krankenhaus eingewiesen werden. Wir haben es Jon zu verdanken, dass das Antiquariat nicht vollkommen ausgebrannt ist.«
Alle gaben ihrer Anerkennung mit leisem Flüstern oder einem Nicken in Jons Richtung Ausdruck. Katherina biss die Zähne fest zusammen und hielt den Blick auf die Tischplatte gesenkt. Sie hatte keinen Heldenempfang von Kortmann erwartet, wohl aber, dass er wenigstens ihre Beteiligung an der Bekämpfung des Feuers erwähnte. Die Tatsache, dass er bereit war, sich mit ihr in einem Raum aufzuhalten, bedeutete doch wohl, dass er ihr vertraute. Warum spielte er ihre Rolle dann herunter? Doch vielleicht wusste er ja gar nicht so richtig, was passiert war. Kortmann hatte die Geschichte von Jon und Paw gehört, und sie wusste nicht, welche Version sie ihm erzählt hatten. Sie richtete ihren Blick auf Jon, der keine Miene verzog.
»Jon ist Lucas Sohn, wie ihr alle schon gehört habt«, fuhr Kortmann fort. »Es ist uns erst seit kurzem bekannt, nein - ich sollte wohl besser sagen, wir haben uns erst bei seinem Auftauchen bei der Beerdigung wieder daran erinnert, dass Luca einen Sohn hatte. Umgekehrt hat auch er erst jetzt von der Existenz unserer Gesellschaft erfahren. Er ist noch kein aktivierter Lettore.«
Die Anwesenden betrachteten Jon, doch sein Gesichtsausdruck änderte sich auch dann nicht, als die Beziehung zu seinem Vater zur Sprache kam.
»Ich persönlich bin sehr froh darüber, dass er zurückgekehrt ist, besonders jetzt, wo wir jeden Mann zur Verteidigung brauchen. Ich möchte alle hier Anwesenden bitten, ihm ihre volle Unterstützung bei der Lösung seiner Aufgabe zuteilwerden zu lassen.«
»Was denn für eine Aufgabe«, fragte der Mann, der Katherina in der Belletristikabteilung aufgefallen war.
»Darauf komme ich noch zu sprechen«,
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