Die Bibliothek des Zaren
zeigte sich, dass sich eine Lösung für seine Situation finden ließ, und zwar eine gar nicht so schwierige. Man kann sagen, es war die einzig mögliche.
Wenn man die guten Menschen nicht um Hilfe angehen kann, muss man eben die schlechten darum bitten. Die Bad Guys waren in dieser Geschichte durch zwei gegeneinander kämpfende Parteien vertreten: Die eine konnte man »Schuriks Partei« nennen, die andere »Partei des Großen Sosso«. Welches von diesen beiden Übeln das geringere war, lag auf der Hand. Die Sicherheitsleute des Großen Sosso hatten den Fremden gestern beschützt, warum sollten sie das heute nicht tun? Es war völlig unklar, auf welches Spiel sich der gejagte Magister der Geschichte damit einließ, aber hatte er denn überhaupt die Wahl? Ethische Bedenken konnte es hier nicht geben. Sosso Gabunija war in diesem Thriller keineswegs ein unbeteiligtes Unschuldslamm, sondern einer der Hauptakteure.
Also, was zu tun war, war entschieden.
Jetzt galt es nur noch über das Wie nachzudenken.
Adresse und Telefonnummer des Mannes mit dem Namen Sosso Gabunija waren unbekannt. Was sollte »Sosso« überhaupt bedeuten? Es war wohl kaum ein Vor-, sondern eher ein Spitzname. Obwohl, vielleicht auch nicht? War »Sosso« nicht die georgische Verkleinerungsform von »Joseph«? »Sosso« – war Stalin, der ja aus Georgien stammte und bekanntlich den Vornamen Josef trug, nicht von seinen Freunden so genannt worden?
Also Joseph Gabunija. Was noch? Er war Vorstandsvorsitzender der »Eurodebet«-Bank – so hieß doch die Firma des Großen Sosso, die Altyn erwähnt hatte. Dann war alles klar: Er konnte in eine beliebige Telefonzelle gehen und im Telefonbuch blättern, so einfach war das.
Eine halbe Stunde später kam der durchgefrorene Magister zum Platz zurück, setzte sich auf dieselbe Bank und schlug die Hände überm Kopf zusammen. In keiner der drei Telefonzellen, die er auf den anliegenden Straßen entdeckt hatte, gab es ein Telefonbuch. Damit noch nicht genug, Fandorin hatte noch nicht einmal das Brett gesehen, an dem das oben erwähnte Buch seinen Platz hätte haben können. Was, wenn es in Russland womöglich gar nicht üblich war, die öffentlichen Telefonzellen mit einem Telefonbuch auszustatten?
Warum war in diesem Land nur alles so schwierig? Da denkst du, das ist das Einfachste auf der Welt, eine Telefonnummer herauszufinden. Nicholas saß da, klapperte mit den Zähnen und blickte verzagt auf den Samsonite-Aktenkoffer, auf den er seine Ellbogen stützte. Der Ellbogen ist zwar nah, aber reinbeißen kann man nicht, so lautete ein russisches Sprichwort . . .
Obwohl, Pustekuchen, nicht reinbeißen . . . Fandorin fuhr auf. Wofür brauchte er ein Telefonbuch, wenn hier in seinem Aktenkoffer ein Computer mit Internet-Zugang lag? Da sah man mal wieder, wie sehr das Trinken die intellektuellen Fähigkeiten des Hirns außer Gefecht setzt.
Er schaltete schnell den Computer ein, verband ihn mit dem Telefon, und in null Komma nichts hatte er über das russischsprachige Netz schon die »Gelben Seiten« von Moskau gefunden.
Die »Eurodebet«-Bank: Adresse, Telefonnummer für Informationen, E-Mail-Adresse, Link zur Homepage. Toll.
Da war ja die Homepage. Na also. Stammkapital, Gründer, Vorstandsvorsitzender: Joseph Guramowitsch Gabunija. Und die Telefonnummer seines Sekretariats.
Nicholas wählte die Nummer. Natürlich antwortete kurz vor Mitternacht nur die sterile Stimme eines Telefonfräuleins: »Guten Tag. Sie sind mit dem Sekretariat von Joseph Guramowitsch Gabunija verbunden. Ihren Anruf nimmt ein Anrufbeantworter entgegen. Bitte nennen Sie Ihren Namen und hinterlassen . . .«
Der Misserfolg (der zu erwarten war) entmutigte Nicholas nicht. Er überzeugte ihn nur wieder von der gewaltigen Kraft des menschlichen Verstandes. Er hätte natürlich irgendwie bis zum Morgen durchhalten und dann direkt zur Sredni-Gnesdnikowski-Gasse, wo die »Eurodebet« ihren Sitz hatte, gehen können, aber erstens drohte die Übernachtung an der frischen Luft womöglich mit einer Lungenentzündung zu enden, und zweitens, wie heißt es doch so schön: Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute . . .
Nicholas ging wieder ins Internet und wies die Suchmaschine an, alle Seiten, in denen es die Wortverbindung »Joseph + Gabunija + Eurodebet« gab, herauszufischen. Die Ausbeute war reich. Nachdem er die Aufstellung des gefundenen Materials flüchtig durchgesehen hatte, wählte der Magister die beiden umfangreichsten
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