Die Bibliothek des Zaren
klein. So ist das nun mal im Business, Nikolai Alexandrowitsch. Entweder er frisst mich oder, was wahrscheinlicher ist, ich ihn. Tertium non datur. Sedoi und ich, wir beobachten uns gegenseitig und warten, wer zuerst einen Fehler macht . . . Sehen Sie, Nikolai Alexandrowitsch, ich gehe ganz offen mit Ihnen um und antworte auf alle Fragen. Und rechne von Ihrer Seite mit derselben Offenheit. Was meinen Sie denn selbst, wie lange es Ihnen gelingen wird, vor Schurik wegzulaufen? Ich kann Sie schützen.«
Nicholas runzelte die Stirn. Heute wollten ihn irgendwie alle beschützen. Einerseits war das schmeichelhaft, auf der anderen Seite warf es Fragen auf. Altyn hatte von dem Zank im Zusammenhang mit der Aufteilung von »Westciboyle« erzählt. In Russland waren alle wie verrückt hinter Erdöl und Gas her. Man hatte den Eindruck, außer Brennstoff sei in Russland nichts zu holen. Aber was hatte der Konflikt der Erdölmagnaten mit dem unbedeutenden Magister zu tun?
Sosso wusste wohl selbst nichts. Er sah, dass sein Konkurrent aus irgendeinem Grund den Engländer töten wollte, und handelte nach dem Prinzip: Durchkreuze die Pläne deines Feindes, auch wenn du nicht weißt, wie sie aussehen.
»Ich habe mich an Sie gewandt, weil ich wie ein Igel im Nebel bin und hoffe, diesen Nebel mit Ihrer Hilfe vielleicht wenigstens ein bisschen lichten zu können«, wollte Fandorin ehrlich zugeben, aber es war klar: Der Georgier konnte ihm nichts erklären. Oder wollte nicht.
Das auf dem Tischchen neben der Pralinenschachtel liegende Telefon klingelte. Gabunija nahm den Hörer ab. Hörte schweigend zu. Seine eine Braue hob sich. Ein wenig später kam die zweite hinzu. Der Blick des Bankiers fiel auf Nicholas und wurde scharf und durchdringend.
»Klar, Wladimir Iwanowitsch«, sagte Sosso und legte auf.
Er nahm eine Praline, und während er langsam an ihr herumkaute, blickte er immer noch auf Fandorin.
»Das war Wladimir Iwanowitsch Sergejew, mein Berater in Sicherheitsfragen. Ein ehemaliger Oberst der Spionageabwehr und Mann mit wichtigen Verbindungen. Gerade eben wurde ihm eine interessante Neuigkeit gemeldet. Man hat Schurik tot aufgefunden. Drei Kugeln im Bauch, drei im Genick . . . Ich sehe, Nikolai Alexandrowitsch, diese Nachricht wundert Sie nicht, ja? Außerdem hat Wladimir Iwanowitsch gesagt, dass im Zusammenhang mit diesem Vorfall nach einem britischen Staatsangehörigen gefahndet wird . . .«
Nicholas spürte, dass er blass wurde. Was, wenn der listige Gabunija sich nun plötzlich einen Vorteil davon verspräche, den flüchtigen Engländer der Miliz zu übergeben?
»Ich schließe daraus«, sagte Joseph Guramowitsch, wobei er nachdenklich mit dem Ring an seinem Finger spielte, »Sie sind nicht zu mir gekommen, um Schutz zu suchen. Sie sind offenbar durchaus im Stande, sich selbst zu verteidigen. Warum sind Sie dann gekommen? Wollen Sie eine Information anbieten? Wenn man sie gegen Sedoi verwenden kann, kaufe ich sie und zahle gut dafür.«
Fandorin schüttelte den Kopf.
»Das wollen Sie nicht«, hielt Sosso fest. »Was dann? Sind Sie vielleicht gekommen, weil ich Ihnen helfen soll?«
Der Magister wollte wieder den Kopf schütteln, war sich seiner Sache aber nicht sicher. Schließlich war er wirklich hierher gekommen, weil er Hilfe suchte. Was konnte er allein schon ausrichten? In einem fremden Land und einer fremden Stadt, wo Miliz und Mafia hinter ihm her waren.
Gabunija füllte zwei Gläser mit Cognac.
»Alles klar. Sie brauchen Hilfe. Ich sehe, Sie sind ein seriöser Mann und machen nicht viel Worte. Solche liebe ich – ich selbst bin eher ein Schwätzer . . . Wissen Sie was, Nikolai Alexandrowitsch, wenn Sie nicht sagen wollen, was für eine offene Rechnung Sie mit Sedoi haben, lassen Sie’s. Ich helfe Ihnen in jedem Fall.«
»Ich kenne diesen Sedoi doch überhaupt nicht!«, schrie Nicholas, dem der Kragen platzte, und fügte naiv hinzu: »Ehrenwort!«
Sein Ausbruch war ein wenig zu emotional, um nicht zu sagen kindlich geraten, und verdarb das Bild von dem wortkargen, beherrschten Agenten des Geheimdienstes Ihrer Majestät (»Ich heiße Bond. James Bond.«), das Joseph Guramowitsch sich zurechtgelegt hatte.
Die Braue des Magnaten hob sich erneut. Gabunija rückte die vollen Gläser beiseite, nahm den Billardstock und stieß die Kugel Nr. 6 an. Sie rutschte in einem spitzen Winkel um Chouchou herum und verschwand im Loch, nachdem sie vorher Nr. 7 angestoßen hatte, die sich um die eigene Achse drehte und dann
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